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Flügel aus Asche

Flügel aus Asche

Titel: Flügel aus Asche
Autoren: Kaja Evert
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schätzen, einen Lehrer wie dich zu haben.«
    »Da kriege ich ja von dem bloßen Gedanken Bauchschmerzen! Wer bin ich denn, mir anzumaßen, ich könnte irgendwem was beibringen, wo ich doch selbst die Wahrheit nicht kenne? Nein, das muss ich anders anpacken. Viel besser ist es, wir fangen wieder an zu diskutieren. Auf der Straße und in den Kneipen, so wie damals! Ja, das ist gut. Das Fragen nach der Wahrheit beginnt von neuem.«
    »Musst du noch so viel nach der Wahrheit suchen?«, fragte Adeen. »Haben wir nicht genug Lügen aufgedeckt?«
    »Ach, es ist sehr viel mehr nötig, um die Wahrheit zu finden, als bloß Lügen zu durchschauen, mein törichter junger Freund«, sagte Schwärmer freundlich. »Das gilt auch für die Helden unter uns. Dir wird nie langweilig werden, wenn du nach der Wahrheit fragst, das verspreche ich dir.«
    »Ich bin kein Held«, sagte Adeen leise, mehr zu sich selbst als zu Schwärmer. Wenigstens, das spürte er, würde er nie wieder Adeen, die Krähe, sein. Durch die gedämpften Farben des Wintermorgens sprach seine Magie zu ihm. Ihm war, als könne er jeden Moment die Flügel ausbreiten und zusammen mit Rashija in den Himmel aufsteigen. Jetzt, da der Kampf vorüber war und er sich fern von den Lazarettzelten befand, streiften die Federn des Aschevogels sanft über seine Seele. Er würde diese Macht nicht mehr fürchten, nicht mehr zulassen, dass ihr zerstörerischer Teil seinen Verstand verschlang. Sie waren Gefährten, untrennbar. Talanna hatte gesagt, der Vogel und seine Fähigkeit, Bilder zu erschaffen, seien verbunden. Vielleicht waren diese Worte seine kostbarste Erinnerung an sie.
    »Adeen, das hier, das ist für dich. Ich habe immer auf die richtige Gelegenheit gewartet, es dir zu geben. Vielleicht heitert es dich ein bisschen auf.«
    Adeen blickte auf. Yoluan reichte ihm ein Paket von undefinierbarer Form, das er die ganze Zeit mit sich herumgetragen hatte. Es war in ein braunes Tuch gehüllt, und Adeen hatte geglaubt, es enthalte sein Frühstück.
    »Ein Geschenk?«
    »Ich habe es dir versprochen.«
    Überrascht kniete sich Adeen auf den kalten Boden und schlug das Tuch auseinander. Hölzerne Dosen purzelten ihm entgegen, mit Kork und Wachs versiegelt, und er erkannte sofort den Geruch der Farben – wie damals, in Rasmis Quartier. Daneben lagen krumme, struppige Pinsel in unterschiedlichen Längen, zusammengebunden wie Stangengemüse.
    Adeen brauchte einige Augenblicke, ehe er die Sprache wiederfand. »Wo in aller Welt … hast du das aufgetrieben?«
    »Ich hab ein paar Soldaten gefragt, wie man Farbe herstellt. Die Pinsel hab ich selbst gemacht. Gefällt es dir?«
    Adeen konnte nicht antworten. Tiefrote und blaue Töne fluteten sein Herz, und er umarmte Yoluan.
    »Natürlich. Danke, Yoluan.«
    »Dort ist das Signalfeuer!«, sagte Yoluan plötzlich.
    Ein bläuliches Licht glomm im höchsten Turm der Akademie auf, hell genug, um in der Dämmerung über weite Entfernung gesehen zu werden. Adeen stand auf. Der Vogel schrie, und Adeen fragte sich, ob Talanna in diesem Moment auch an ihn dachte.
    Falsch, es ist falsch hierzubleiben.
In diesem Moment sah er es deutlich; vielleicht hatte Yoluans Geschenk ihm geholfen, es zu begreifen. Sicher, es war gut, den Menschen mit seiner Magie zu helfen, hier auf dem Erdboden, wo er über diese Macht verfügte. Aber das war es nicht, was er wirklich wollte. Er wollte in den Himmel zurückkehren, zusammen mit Talanna. Zurück in die Stadt, die er gehasst hatte, die aber auch seine Heimat war. Hier auf der Erde gab es andere Heiler, Menschen, die nicht früher oder später an ihrer Arbeit zerbrechen würden.
    Er sah auf seine Hände. Er hatte Menschen getötet. Es war Krieg gewesen, sicher, aber er wünschte trotzdem, er hätte es nicht getan, und er würde es nie vergessen. Vielleicht würde es lange dauern, bis die Bilder zu ihm zurückkehrten, und es würden nicht wieder dieselben sein wie vorher. Aber sie würden zurückkehren, daran zweifelte er nicht. Sie waren immer bei ihm gewesen. Auf sie konnte er vertrauen. Und noch etwas anderes verstand er: Im Himmel würde ihn die Kraft der Erdmagie verlassen, aber nicht die der Luftmagie, das Erbe seiner Mutter. Nachdem er gelernt hatte, wie man flog, würde er es immer wissen.
    Wenn er den Menschen helfen konnte, dann mit seinen Bildern. In Rashija hatten die Menschen längst verlernt, Kunst zu erschaffen, sie brauchten jemanden, der diese Fähigkeit in ihnen wieder weckte. Auch wenn er dort nicht
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