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Flucht vor den Desperados

Flucht vor den Desperados

Titel: Flucht vor den Desperados
Autoren: Caroline Lawrence
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großen Diamantenanstecker am Revers.
    Einmal erzählte uns Pa, es gebe in Virginia City eine ganze Straße für »gefallene Tauben«. Als ich ihn fragte, was eine gefallene Taube sei, sagte er mir, das sei eine Frau aus einfachen Verhältnissen, die sich mit Männern gegen Geld »verlustierte«. Er sagte, man könne die gefallenen Tauben an ihren grellen Kleidern erkennen, die mit schwarzer Spitze eingefasst seien, und an der Tatsache, dass sie keine Korsetts trugen. Ich fragte ihn, was »verlustieren« bedeute. Er sagte, es bedeute, zu küssen und zu kuscheln. Er wollte mir noch mehr erzählen, aber dann brachte ihn Ma zum Schweigen.
    Pa Emmet zufolge wimmelte es in Virginia City außerdem von Chinesen, Mexikanern, Indianern, Leuten aus Cornwall und Irland, von Minenarbeitern, Desperados, Spielern, Revolverhelden und Anwälten. Er sagte, die Anwälte seien die Schlimmsten. Er nannte sie »die Gefolgsleute des Teufels« und behauptete, diese wortgewandtenSchurken könnten einem das letzte Hemd abschwatzen. Er sagte, er würde eher mit einer gefallenen Taube oder einem Glücksspieler vom Mississippi zu Abend essen als mit einem von diesen Anwälten.
    »Devil’s Gate!«, rief der Kutscher. Ich hob den Kopf und sah zwei Felsen, die auf beiden Seiten der Straße wie Dämonen aufragten und zwischen denen die Postkutsche hindurchfahren musste. Dabei verlangsamte der Kutscher die Fahrt, um an einem Zollhäuschen halten zu können. Ich warf einen Blick zurück, konnte aber keine Reiter entdecken, die uns verfolgten. Die Gelegenheit war günstig. Sollte ich absteigen? Bevor ich mich entscheiden konnte, warf der Kutscher dem Zollwächter eine Münze zu, peitschte die Pferde, sagte »Heeya!«, und schon waren wir weiter.
    Jetzt gab es kein Zurück mehr.
    Während wir die Canyon Road höher und höher hinauffuhren, hatte ich das Gefühl, mir drücke etwas schmerzhaft auf die Ohren. Dann gab es eine Art Plopp in meinem Gehörgang & mein Kopf fühlte sich leer an, aber dann konnte ich besser hören als je zuvor. Das war auch der Moment, in dem ich zum ersten Mal die besondere Musik von Virginia City vernahm.
    Zuerst war sie noch schwach, bald konnte ich sie aber trotz der lauten Postkutsche hören: Es klang wie ein klopfender Trauergesang, tief & leise. Zusammen mit dem rhythmischen Hämmern der Pferdehufe und dem Rasseln des Zaumzeugs wurde daraus eine Art Lied. Immer wenn ich einen kräftigen, langsamen Rhythmus höre, hat das eine eigenartige Wirkung auf mich. Mir wird dann ganz ruhig& entspannt zumute, und die Zeit scheint sich aufzulösen. Während die Kutsche höher hinauffuhr, wurde die Musik des Berges lauter und ich verfiel in eine Art Benommenheit. Ich weiß nicht, ob sie ein paar Minuten oder noch länger dauerte, aber der plötzliche, ruckende Halt der Kutsche, begleitet von einer schrillen Minenpfeife, gab mir meine Sinne wieder.
    »Gold Hill!«, rief der Kutscher. »Nächster Halt Virginia City!«
    Ich kam zurück in die Welt, wie ein Schwimmer, der aus der Tiefe eines gleichmäßig dahinziehenden Flusses auftaucht. Wir waren neben einem Hotel zum Stehen gekommen, das sich in der Nähe der größten Hügel aus zermahlenem Gestein befand, die ich je gesehen hatte. Wie gigantische Ameisenhaufen waren diese sogenannten Tailings durchzogen von Gelb & Gold & Orange und ragten im Sonnenlicht des Nachmittags auf.
    Weiter oben auf den mit Beifuß gesprenkelten Anhöhen konnte ich einige Minengebäude sehen, und mir wurde klar, dass das rhythmische Stampfen von den vielen Quartz Stamp Mills herrührte, die darin arbeiteten. Eine dieser Maschinen stand eher außerhalb des Gebäudes als im Inneren. Sie bestand aus einem türförmigen Rahmen, der doppelt so hoch war wie die Postkutsche und an dem sich acht Metallstäbe auf & nieder bewegten wie die Beine einer Tänzerin. Die Minenarbeiter schoben von hinten die Felsbrocken nach, und anschließend wurde das pulverisierte Quarz in das Minengebäude gebracht, um zu Silber weiterverarbeitet zu werden. Miss Marlowe hatte uns das mal erklärt, aber ich hatte es nicht verstanden. Ichvermutete, es müsse tausend von diesen Maschinen in Virginia City geben, denn sie ließen den Boden pulsieren, als würde darunter das Herz eines Riesen schlagen.
    Bald schon war die Kutsche wieder unterwegs, diesmal jedoch langsam. Noch einmal stieg die Straße steil an & setzte den armen Pferden zu. Schließlich erreichten wir die höchste Stelle & ich sah die Kuppel eines ausgedörrten Berges, der vor
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