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Flucht aus Lager 14

Flucht aus Lager 14

Titel: Flucht aus Lager 14
Autoren: B Harden
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Unterwäsche oder Toilettenpapier. Tag für Tag müssen sie zwölf bis fünfzehn Stunden arbeiten, bis sie sterben, gewöhnlich an den Folgen der Unterernährung und noch bevor sie fünfzig Jahre alt sind. 4 Auch wenn wir keine genauen Zahlen ermitteln können, gibt es Schätzungen westlicher Regierungen und Menschenrechtsgruppen, dass in diesen Lagern Hunderttausende umgekommen sind.
    Die meisten Nordkoreaner, die in ein Lager geschickt werden, sind nicht einmal vor ein Gericht gestellt worden. Viele sterben dort, ohne jemals zu erfahren, aus welchem Grund sie interniert wurden. Mitarbeiter der Bowibu, der Nationalen Sicherheitsbehörde, holen sie – gewöhnlich in der Nacht – zu Hause ab. Teil der nordkoreanischen Rechtsauffassung ist, dass man kraft Verbindung oder Verwandtschaft schuldig wird, und so wird ein Übeltäter häufig zusammen mit seinen Eltern und Kindern ins Gefängnis eingeliefert. Kim Il Sung hat dazu 1958 folgendes Gesetz formuliert: »Klassenfeinde müssen ohne Ansehung der Person bis ins dritte Glied ausgemerzt werden.«
    Meine erste Begegnung mit Shin war ein Mittagessen im Winter 2008. Wir trafen uns in einem koreanischen Restaurant im Zentrum von Seoul. Gesprächig und hungrig verdrückte er mehrere Portionen Reis mit Fleisch. Während er aß, erzählte er meinem Dolmetscher und mir, wie es für ihn war, als seine Mutter vor seinen Augen hingerichtet wurde. Er machte sie verantwortlich für seine Leiden im Lager, und es fiel ihm sichtlich schwer zuzugeben, dass er noch immer wütend auf sie war. Er sei »kein guter Sohn« gewesen, sagte er, ohne näher darauf einzugehen.
    Während seiner Jahre im Lager habe er kein einziges Mal das Wort »Liebe« gehört, jedenfalls nicht von seiner Mutter, einer Frau, die er selbst nach ihrem Tod noch immer verachtete. In einer südkoreanischen Kirche hatte er das Wort »Vergebung« gehört, aber es verwirrte ihn. Die Bitte um Vergebung bedeutete im Lager 14, »darum zu bitten, nicht bestraft zu werden«.
    Er hatte einen Bericht über das Lager veröffentlicht, der jedoch in Südkorea wenig Beachtung gefunden hatte. Er war ohne Arbeit, mittellos, hatte Mietschulden und wusste nicht, wie es mit ihm weitergehen sollte. Die Vorschriften im Lager 14 hatten ihn daran gehindert, intimen Kontakt mit einer Frau aufzunehmen, auf dieses Vergehen stand schließlich die Todesstrafe. Jetzt wollte er eine richtige Freundin finden, hatte jedoch keine Vorstellung, wie er das anstellen sollte.
    Nach dem Essen ging er mit mir zu der winzigen, traurigen Wohnung in Seoul, die er sich eigentlich nicht leisten konnte. Ohne mir ins Gesicht zu sehen, zeigte er mir seinen Mittelfinger, dem das erste Glied fehlte, und die Narben auf seinem Rücken. Er erlaubte mir, ihn zu fotografieren. Trotz aller Torturen, die er durchgestanden hatte, wirkte sein Gesicht noch kindlich. Er war 26 Jahre alt – nur drei davon hatte außerhalb des Lagers verbracht.
    Am Tag dieser denkwürdigen Begegnung war ich 56 Jahre alt. Als Korrespondent der Washington Post in Nordostasien hatte ich seit mehr als einem Jahr eine Story gesucht, die erklären könnte, mit welchen Repressionsmethoden das Regime Nordkoreas arbeitete, um nicht auseinanderzufallen.
    Politische Implosionen waren zu meinem Spezialthema geworden. Für die Post und die New York Times verbrachte ich fast drei Jahrzehnte damit, über das Scheitern von Staaten in Afrika zu schreiben, über den Kollaps des Kommunismus in Osteuropa, den Zerfall Jugoslawiens und den quälend langsamen Prozess der Fäulnis Birmas unter den Generälen. Aus der Distanz gesehen schien Nordkorea reif, um nicht zu sagen überreif zu sein, wenn ich die Lage mit meinen bisherigen Erfahrungen verglich. In einem Teil der Welt, in dem fast alle anderen reich wurden, war seine Bevölkerung zunehmend isoliert, arm und hungrig.
    Dennoch schaffte es die Kim-Dynastie, sich an der Macht zu halten. Totalitäre Unterdrückung sicherte dem heruntergewirtschafteten Staat das Leben.
    Leider konnte ich nicht zeigen, wie Kims Regierung dies so lange geschafft hatte, denn mir fehlte der Zugang zu dem Land. In anderen Weltgegenden waren repressive Staaten nicht immer in der Lage, die Bevölkerung von der Außenwelt abzuschotten. Es war mir möglich gewesen, ebenso offen in Mengistus Äthiopien zu arbeiten wie im Kongo Mobutus und in Serbien unter Milošević, und ich war als Tourist nach Birma eingereist, um über das Land zu berichten.
    Nordkorea ist wesentlich vorsichtiger. Reporter
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