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Flucht aus Lager 14

Flucht aus Lager 14

Titel: Flucht aus Lager 14
Autoren: B Harden
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Hawk, hätten ihre Aussagen Bestand.
    Sollte das Regime Nordkoreas stürzen, könnte sich die Vermutung Shins bewahrheiten, dass seine Führer, die mit einem Prozess wegen Kriegsverbrechen rechnen müssen, die Lager abreißen, bevor sie von Ermittlern untersucht werden können. Kim Jong Il erklärte einmal: »Wir müssen unsere Umwelt in einen dichten Nebel hüllen, um unsere Feinde daran zu hindern, irgendetwas über uns zu erfahren.« 6
    In dem Bestreben, das zu einem Bild zusammenzufügen, was ich nicht sehen konnte, verbrachte ich drei Jahren fast ausschließlich damit, über Nordkoreas Militär, Führung, Wirtschaft, Lebensmittelknappheit und Verstöße gegen Menschenrechte zu berichten. Ich befragte zahlreiche nordkoreanische Überläufer, unter denen sich auch drei ehemalige Häftlinge des Lagers 15 befanden, sowie einen ehemaligen Wärter und Fahrer, der in vier Arbeitslagern gearbeitet hatte. Ich sprach mit südkoreanischen Wissenschaftlern und Technikern, die regelmäßig nach Nordkorea einreisten, und ich sichtete die Erinnerungs- und Forschungsliteratur. In den Vereinigten Staaten führte ich lange Interviews mit Amerikanern koreanischer Abstammung, die Shins engste Freunde wurden.
    Um das Lagerschicksal Shins besser einschätzen zu können, muss man bedenken, dass viele weitere Häftlinge in den Arbeitslagern ähnliche und sogar schlimmere Umstände erdulden müssen. Folgt man dem Urteil von An Myeong Chul, einem ehemaligen Lageraufseher und Fahrer, dann hatte »Shin ein vergleichsweise bequemes Leben, gemessen an den Bedingungen anderer Kinder in den Lagern«.
    Mit Atombombentests, bewaffneten Überfällen auf südkoreanisches Territorium und durch ihre Gereiztheit und Angriffslust hat die Regierung Nordkoreas auf der koreanischen Halbinsel einen nahezu ständigen Alarmzustand erzeugt.
    Wenn sie sich einmal herablässt, an internationalen Gesprächen teilzunehmen, sorgt sie regelmäßig dafür, dass die Frage der Menschenrechte nicht zur Sprache kommt. In den Krisenverhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und Nordkorea ging und geht es in der Hauptsache um Kernwaffen und Marschflugkörper. Die Zwangsarbeitslager spielten dabei bislang nur eine untergeordnete Rolle.
    »Mit ihnen über diese Lager zu reden ist ein Ding der Unmöglichkeit«, sagte mir David Straub, unter den Regierungen Clinton und Bush Chefexperte im US -Außenministerium für Korea. »Sie gehen an die Decke, sobald man sie darauf anspricht.«
    Die Lager haben das kollektive Gewissen der Welt bisher nicht wachrütteln können. In den USA erschienen in der Presse zwar Artikel über sie, doch im Großen und Ganzen weiß kaum jemand etwas von ihrer Existenz. Über mehrere Jahre hinweg versammelte sich regelmäßig im Frühling eine kleine Gruppe ehemaliger Flüchtlinge und Lagerhäftlinge auf der National Mall in Washington, um Reden zu halten und zu demonstrieren. Die Presse der Hauptstadt nahm davon kaum Notiz. Zum Teil lag das an fehlenden Sprachkenntnissen: Die meisten Flüchtlinge sprachen nur Koreanisch. Ein weiterer wichtiger Grund ist eine Medienkultur, die von Berühmtheiten lebt. Bisher ist keine Filmgröße, kein Popstar, kein Nobelpreisträger ins Rampenlicht getreten und hat dazu aufgefordert, sich zu engagieren in einer Sache, zu der es leider keine guten Bilder oder Filme gibt.
    »Die Tibeter haben den Dalai Lama und Richard Gere, die Birmanen haben Aung San Suu Kyi, die Einwohner von Darfur haben Mia Farrow und George Clooney«, sagte mir einmal Suzanne Scholte, eine langjährige Aktivistin, die Überlebende der Lager nach Washington brachte. »Die Nordkoreaner haben keine solche Lobby.«
    Shin ist der Meinung, er verdiene es nicht, für die Zehntausende zu sprechen, die sich noch in den Lagern befinden. Er schämt sich dessen, was er alles getan hat, um zu überleben. Er hat sich dagegen gesperrt, Englisch zu lernen, zum Teil aus dem Grund, weil er nicht bereit war, seine Geschichte immer wieder neu in einer Sprache zu erzählen, die ihn zu einer wichtigen Person machen könnte. Dagegen wünscht er sich von Herzen, dass die Welt erfährt, was Nordkorea mit allen Mitteln zu verbergen versucht. Er trägt eine schwere Bürde. Kein anderer, der in einem dieser Lager geboren und aufgewachsen ist, konnte bislang fliehen und der Welt erzählen, was dort geschah – und was bis heute dort geschieht.

    * Im Unterschied zu den nordkoreanischen werden südkoreanische Namen mit einem Bindestrich geschrieben.

KAPITEL 1
    Der Junge,
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