Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flucht aus Lager 14

Flucht aus Lager 14

Titel: Flucht aus Lager 14
Autoren: B Harden
Vom Netzwerk:
Antwort; es war das Arbeitszimmer des für das Reisfeld verantwortlichen Wärters.
    Shin ging zu dessen Büro und fand die Eingangstür verschlossen. Durch ein Fenster in einer der Seitenwände spähte er in das Innere. Seine Mutter putzte kniend den Fußboden. Kurz darauf sah er den Bowijidowon , der sich seiner Mutter von hinten näherte und sie zu berühren begann. Sie schien nichts dagegen zu haben. Beide zogen sich aus, und Shin sah zu, wie sie Geschlechtsverkehr hatten.
    Nie hat er seine Mutter danach gefragt, was das Gesehene bedeutete, und auch mit seinem Vater sprach er nicht darüber.
    Im selben Jahr wurden die Schüler in Shins Grundschulklasse aufgefordert, ihren Eltern bei der Arbeit zu helfen. Eines Morgens begleitete er seine Mutter, um gemeinsam mit ihr Reissämlinge einzupflanzen. Sie schien sich unwohl zu fühlen und fiel gegenüber den anderen Frauen zurück. Kurz vor der Mittagspause bemerkte einer der Wärter, dass sie langsamer war.
    »Du Miststück«, schrie er sie an.
    »Miststück« war die übliche Form der Anrede, wenn Lagerwärter weibliche Häftlinge ansprachen. Gewöhnlich redeten die Wärter Shin und andere männliche Häftlinge mit »Hundesohn« an.
    »Wie kannst du dir den Bauch vollschlagen, wenn du nicht einmal Reissämlinge einpflanzen kannst?«, schimpfte der Wärter.
    Sie bat um Verzeihung, doch der Wärter geriet zunehmend in Rage.
    »Dieses Miststück will einfach nicht«, brüllte er wieder.
    Während Shin neben seiner Mutter stand, dachte sich der Wärter eine Strafe für sie aus.
    »Du kniest dich jetzt auf diesen Haufen und hebst die Arme hoch. Und in dieser Haltung bleibst du, bis ich vom Mittagessen zurück bin.«
    Shins Mutter blieb anderthalb Stunden in sengender Sonne mit erhobenen Armen auf dem Hügel knien. Ihr Sohn stand in der Nähe und sah zu. Er wusste nicht, was er zu ihr sagen könnte. So blieb er stumm.
    Als der Wärter zurückkam, befahl er Shins Mutter, sich wieder an die Arbeit zu machen. Geschwächt und hungrig brach sie schließlich ohnmächtig zusammen. Shin lief zu dem Wärter und bat ihn um Hilfe. Andere Arbeiterinnen zogen seine Mutter zu einem schattigen Ruheplatz, wo sie wieder zu Bewusstsein kam.
    An diesem Abend ging Shin zusammen mit seiner Mutter zu einer Versammlung zum Thema »ideologischer Kampf«, eine Pflichtveranstaltung zur Selbstkritik. Shins Mutter fiel bei dieser Versammlung erneut auf die Knie, als vierzig ihrer Leidensgenossinnen unter der Führung des Bowijidowon über sie herfielen und sie beschimpften, weil sie heute ihre Norm bei der Arbeit nicht erfüllt hatte.
    An Sommerabenden schlichen sich Shin und einige der übrigen kleinen Jungen aus seinem Dorf in den Obstgarten unmittelbar nördlich der Ansammlung von Betongebäuden, in denen sie lebten. Sie pflückten unreife Birnen und Gurken und verdrückten sie, so schnell sie konnten. Wenn sie erwischt wurden, prügelten die Wärter sie mit Stöcken, und sie bekamen zur Strafe mehrere Tage lang in der Schule kein Mittagessen.
    Die Wärter hatten jedoch nichts dagegen, wenn Shin und seine Freunde das Fleisch von Ratten, Fröschen, Schlangen und Insekten verspeisten. Diese gab es in dem ausgedehnten Lager zu bestimmten Jahreszeiten im Überfluss, da die Verwaltung des Lagers nur geringe Mengen an Pestiziden einsetzte, sich mit den Exkrementen der Häftlinge als Dünger begnügte und kein Wasser für die Reinigung der Aborte oder zur Körperhygiene zur Verfügung stellte.
    Der Verzehr von Ratten füllte nicht nur einen leeren Magen, er war auch unverzichtbar fürs Überleben. Ihr Fleisch trug dazu bei, der Pellagra vorzubeugen, einer Krankheit, die im Lager vor allem im Winter überhandnahm und Folge des Mangels an Protein und Niacin in der Nahrung war. Die Erkrankten litten unter Schwäche, Hautveränderungen, Durchfall und Demenz. In vielen Fällen führte die Krankheit zum Tod.
    Das Fangen und Braten von Ratten wurde für Shin zu einer Leidenschaft. Er fing sie in seinem Haus, auf den Feldern und im Abort. Abends traf er sich mit seinen Kameraden an der Grundschule, wo es einen Kohlengrill gab, mit dem man sie rösten konnte. Shin zog ihnen das Fell ab, schabte ihre Innereien aus und salzte den Rest – Fleisch, Knochen und die winzigen Füße.
    Außerdem lernte er den nützlichen Gebrauch der Stängel von Fuchsschwanzgras, mit denen man im Spätsommer und Frühherbst Heuschrecken, Grashüpfer und Libellen aufspießen und über dem Feuer rösten konnte. In den Bergwäldern, in die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher