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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition)
Autoren: Stephan Thome
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schlecht beleuchteten Bahnsteig, Mitte der Achtzigerjahre, irgendwo in Ost-Berlin. Peters Tränen. Damals wie heute strahlt er eine Verwundbarkeit aus, die zu tief sitzt, als dass markige Sprüche oder Designerhemden sie überdecken könnten. Maria zufolge ist er oft gescheitert in seinem Leben, als experimenteller Dramatiker ebenso wie später als Wissenschaftler, Café-Betreiber und zuletzt als Herausgeber einer avantgardistischen Kunstzeitschrift namens neo . Ohne das Kapital seines Partners Erwin Krieger hätteer wahrscheinlich auch mit der Verlagsgründung keinen Erfolg gehabt. Inzwischen beschäftigt er fast zwanzig Mitarbeiter.
    »Hartmut, ich hab das Gefühl, du glaubst gar nicht an dieses Projekt. Warum?«
    »Ich brauche mehr Zeit.« Es ist bereits kurz vor zwölf. Er muss raus hier, Maria anrufen und in Ruhe nachdenken.
    »Zehn Tage. Weil du es bist und nur, wenn du am Ende Ja sagst. Wir sitzen hier in den Startlöchern.«
    »Okay.« Hartmut stellt die Tasse ab und steht auf. »Zehn Tage.«
    Die Büros liegen rechtwinklig um einen dank heller Außenkacheln freundlichen Innenhof. Auch im Flur stehen Regale mit den typischen knalligen Umschlägen des Verlags, Werbeposter schmücken frisch gestrichene Wände, überall stapeln sich Kartons. Ein paar Mitarbeiter winken, und Nora Velasquez eilt aus ihrem Büro, um ihm die Hand zu schütteln.
    »Bis bald, Herr Hainbach. Wir freuen uns auf Sie.« Ihre zahlreichen Armbänder machen ein raschelndes Geräusch.
    »Wir werden sehen.«
    »Wir sind wirklich nett hier, oder?«
    »Das stimmt. Vielen Dank schon mal.«
    Das Treppenhaus ist grau und leer wie in einem Rohbau. Durch die Glasfassade kann Hartmut ins Innere des hinteren Gebäudeflügels sehen. Es beginnt das vorletzte Wochenende im August, die Sonne steht hoch und bringt metallene Fensterrahmen zum Glänzen. Dahinter sitzen junge Hauptstadtbewohner vor ihren MacBooks oder stehen um große Arbeitstische herum und diskutieren.
    »Es gibt so was wie den Sog des Unvorstellbaren, oder?«, hört Hartmut sich sagen. Ist es das, was er sich einzureden versucht, seit er den Verlag betreten hat: dass ein Risiko einzugehen zum Leben dazugehört und sich auch dann lohnt, wenn es schiefgeht? Weil kein Risiko einzugehen bloß die Niederlage vorwegnimmt, vor der man sich fürchtet? Auf den Gedanken ist er kürzlich im Bonner Sommerkino gekommen. Als einziger Professor saßer im Arkadenhof der Universität und hat sich gefragt, was es über seinen Zustand aussagt, dass er sich vom Geschehen auf der Leinwand so persönlich angesprochen fühlte.
    Peter zuckt mit den Schultern.
    »Ich seh dich hier«, antwortet er schlicht. »Wir haben ein gutes Team, ein paar ältere Leute mit viel Erfahrung, dazu junge Mitarbeiter mit frischem Schwung. Bei uns passiert was. Sei dabei.«
    »Ich muss noch mal um Diskretion bitten, falls du Maria in der Zwischenzeit siehst.«
    »Bestell ihr schöne Grüße. Wie kann ich dich erreichen, falls du zwischendurch einen Tritt brauchst?«
    »Am besten per E-Mail. Die Adresse hast du.«
    Sie schütteln einander die Hand, dann geht Hartmut die Treppe hinunter und ist überrascht, wie eilig er es hat. Erst draußen auf dem Bürgersteig bleibt er stehen und atmet tief durch. Blickt auf Altbaufassaden und die balkonlose Tristesse sanierter Plattenbauten. An den Laternenpfählen protestieren Aufkleber gegen steigende Mieten. Natürlich hätte er Peter seine Handynummer geben müssen, statt ihn wie einen Studenten mit der E-Mail-Adresse abzuspeisen. Ein paar Worte des Dankes wären angebracht gewesen, außerdem die Versicherung, dass er in dem Wechsel mehr sieht als nur einen Beitrag zur Rettung seiner Ehe. Niedergeschlagen und dennoch erleichtert durchquert Hartmut die Grünanlage am Koppenplatz. Überquellende Mülleimer und Bänke mit chaotischen Graffiti. Ein Holztisch und zwei alte Stühle auf der Wiese könnten Kunst oder Sperrmüll sein. Was er jetzt braucht, ist ein Café, wo Maria ihm bald Gesellschaft leisten kann. Am besten in der Nähe des Theaters. Sie hat mittags nicht viel Zeit.
    Gläserne Fassaden reflektieren das Sonnenlicht und werfen es auf die Gehsteige. Als Hartmut aus dem Durchgang der Hackeschen Höfe tritt, muss er die Augen zusammenkneifen und den Schritt verlangsamen. Vor dem British Council bietet sichdasselbe Bild wie am Morgen: Vier junge Menschen versuchen Mitglieder für eine Organisation namens Oxfam zu gewinnen. Eifrig wedeln sie mit ihren Broschüren, mustern die entgegenkommenden
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