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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition)
Autoren: Stephan Thome
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haben, als er die Frau hinter sich sagen hörte: »Dann vielen Dank. Und einen schönen Tag noch.«
    Rückblickend kann er nicht mehr entscheiden, ob ihre Stimme sarkastisch oder resigniert geklungen hat. Vielleicht beides. Sie musste an Abfuhren gewöhnt sein, und wahrscheinlich sagte sie ihm dasselbe wie allen, die ihr Engagement nicht auf der Stelle unterstützten. Am Morgen allerdings hat er ihre Bemerkung wie einen Tritt in den Hintern empfunden. Erst zwang sie ihn zu dieser schmählichen Flucht, dann verhöhnte sie ihn dafür. Noch zwei Meter ging er weiter, bevor er sich umdrehte und die Worte in ihm hochkamen wie Übelkeit. Tu’s nicht, dachte er, aber es war zu spät: »Verschonen Sie mich mit Ihrem verdammten Gutmenschentum! Ja, geht das?« Er machte sogar einen drohenden Schritt zurück in ihre Richtung. »Warum stecken Sie sich Ihre gerechten Strukturen nicht einfach in den Arsch!«
    Neben ihm zog eine Frau ihr Kind dichter zu sich heran. Zwei Kerle in weiten Hosen lupften grinsend ihre Kopfhörer und zeigten auf den älteren Herrn mit Armani-Brille, der in aller Öffentlichkeit herumbrüllte. Wie ein schlecht gerührter Drink bestand die Luft aus Kälte und Wärme zugleich. Hartmut hörte das Echo seiner Worte, die schrille rohe Wut darin. Sie kam ihm größer vor als das, was er empfand. Dann war die Sekunde vorbei, und alle gehorchten ihrer großstädtischenKonditionierung. Stellten fest, dass niemand verletzt worden war und sahen wieder weg. Alle, bis auf die Oxfam-Frau. Mit hängenden Armen stand sie drei Meter entfernt und starrte ihn an. Strähnige blonde Haare fielen ihr auf die Schulter. War ich das?, fragte ihr Blick. Ohne Groll, nur erschrocken und beinahe mitleidig. Das hat mit Ihnen nichts zu tun, dachte Hartmut, aber anstatt es zu sagen, schüttelte er den Kopf und entkam auf die andere Straßenseite. Durch den Eingang der Höfe, zu seinem Termin bei Karow & Krieger.
    Warum stecken Sie sich Ihre gerechten Strukturen nicht einfach in den Arsch! Seine eigenen Worte. Zu einer Frau!
    Was ihn in die Gegenwart zurückholt, ist das Geräusch seines Atems. Seit dem Espresso im Verlag klopft sein Herz schnell und hart, und die peinigende Erinnerung tut ein Übriges. In der vierköpfigen Gruppe auf der anderen Straßenseite erkennt er die junge Frau wieder. Stoisch stellt sie sich einem Passanten nach dem anderen in den Weg, ein robustes Lächeln im Gesicht und ihren Spruch auf den Lippen. Soll er zu ihr gehen und sich entschuldigen? Sobald er den Gedanken erwägt, fühlt er sich aufs Neue bedrängt vom Betrieb auf der Straße. Trams klingeln sich den Weg frei. Das Licht kommt aus allen Richtungen, so wie die vielen Fußgänger, und ihn übermannt das Bedürfnis nach Schatten und Stille. Was er ihr an den Kopf geworfen hat, klingt derart absonderlich, dass er sich nur halbherzig dafür schämt. Eher erstaunt es ihn, dass er das tatsächlich gesagt haben soll. Heute Vormittag, auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch?
    Schnellen Schrittes überquert er die Straße. Vor den Restaurants beim S-Bahnhof mokieren sich Gäste über den Kerl mit der Gitarre, der nicht singen kann und sie trotzdem gleich anbetteln wird. Hartmut zwängt sich zwischen Tischgruppen hindurch und betritt den riesigen, fast leeren Raum unter der Bahntrasse. Angenehmes Dämmerlicht empfängt ihn. Rechts eine opulente Bar, links der Durchgang zu den Tischen, von denen nur zwei besetzt sind. Ein Barkeeper mit breiten Schulternund rasiertem Schädel nickt ihm zu. Auf den letzten Schritten beginnt sich sein Puls zu beruhigen, dann sitzt er an einem schweren Holztisch, zieht das Sakko aus und fühlt sich augenblicklich besser. Leise Radiomusik hält die Geräusche von draußen auf Abstand.
    Als der Barkeeper an seinen Tisch kommt, bestellt Hartmut ein Wasser ohne Eis und ein Glas Riesling. Bis er auf die Autobahn muss, bleiben ihm drei Stunden.
    »Kommt sofort.« Der Hüne legt eine Speisekarte auf den Tisch und will wieder verschwinden, dreht sich aber noch einmal um. »Alles in Ordnung bei Ihnen?« In seinen Ohrläppchen stecken schwarze Ringe, die wie Unterlegscheiben aussehen.
    »Alles okay. Ziemlich warm draußen.«
    »Sommer, wa.« Er nickt noch einmal und geht.
    Zurücklehnen. Kurz die Augen schließen. Durchatmen. Beim Abschied am Morgen hat Maria darauf bestanden, dass sie gemeinsam zu Mittag essen, bevor er wieder fährt. Das Handy teilt ihm mit, dass vor einer Viertelstunde ein Anruf von ihr eingegangen ist. Hoffentlich
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