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Fleischmarkt

Fleischmarkt

Titel: Fleischmarkt
Autoren: Laurie Penny
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Mittelklasse kistenweise Champagner für den 16. Geburtstag ihrer pubertierenden Sprösslinge ordern, aber schlichtweg unerträglich, wenn Kids aus der Arbeiterschicht versuchen, sich mit Hip-Hop und Sex die Kante zu geben. »Die Wahrnehmung geht dahin, dass nur bestimmte junge Mädchen schwanger werden«, erklärt Boynton. »Es sind die bösen Mädchen, die kurze Röcke tragen und die Stadt unsicher machen. Klasse wird oft mit den schlimmsten Aspekten negativer Geschlechterklischees assoziiert.«
    2009 hatte der Fotograf einer Boulevardzeitung ein Bild der 20-jährigen Referendarin Sarah Lyons veröffentlicht, die im Stadtzentrum von Cardiff mit einer um die Fußknöchel schlotternden Unterhose herumalbert. Das führte dazu, dass sich die weltweite Missbilligung des Weiblichen auf ihre Person konzentrierte. Es spielte dabei keine Rolle, dass sie überhaupt nichts Anstößiges zeigte, auch nicht, dass Tanzen mit einem Schlüpfer an den Knöcheln rechtlich nicht zu beanstanden ist und dass das Höschen, um das es ging, überhaupt nicht ihre Unterwäsche war, sondern eine Scherzartikel-Unterhose mit David-Hasselhoff-Aufdruck, die eine Freundin in einer Bar aufgelesen hatte. Egal war auch, dass die arme Sarah Lyons gerade Antibiotika einnehmen musste und daher zu dem Zeitpunkt, als das Foto entstand, stocknüchtern war: Das neue Pin-up des komasaufenden Mannweibes wurde vom Dienst suspendiert und hatte ein Disziplinarverfahren am Hals – wegen des zweifelhaften Verbrechens, in der Öffentlichkeit Spaß gehabt zu haben.
    Die fragliche Zeitung war
The Sun
des Medienkonzerns News Corporation von Rupert Murdoch. Auf der berühmten Seite drei dieser Zeitung werden andererseits jeden Tag barbusige Models aus der Glamourwelt abgebildet, was Bestandteil einer gesellschaftlichen Dialektik ist, die nur dann ein Problem mit in Unterhosen auf der Straße tanzenden Frauen hat, wenn diese für ihren Auftritt nicht bezahlt werden. Den Sturm der öffentlichen moralischen Empörung, die dem Foto folgte, nutzte der Kolumnist Quentin Letts, um den Feminismus anzuprangern, der angeblich »eine ganze Generation von weiblichen Trampeln mit locker sitzenden Schlüpfern« hervorgebracht habe.
    »Das britische Mädchen ist zur ›Ladette‹ (Mannweib) mit aufgedunsenem Gesicht und Gänsehaut an den nackten Beinen verkommen, die am Wochenende auf ihrem Weg zur Disko und zum ersehnten Fick lautstark über den Asphalt klackert… Die ältere Generation würde diese Frauen als ›Flittchen‹ bezeichnen – zu Recht!« 4
    Letts war mit seiner Lästertirade über die fetten Frauenkörper und die unmöglichen Klamotten, mit der er jede Frau als Nutte brandmarkt, die versucht, ihr sexuelles Begehren zu artikulieren, aber noch nicht zufrieden, sondern fuhr fort, nachdem er ausführlich und aufgeregt auch über Teenagerschwangerschaften, den Niedergang der traditionellen Ehe, Drogen, freie Liebe und Einwanderer als Symptome des vermeintlich pandemisch um sich greifenden Niedergangs des weiblichen Geschlechts hergezogen war, den Feminismus als Ursache aller sozialen Übel anzuprangern. Es spielt dabei keine Rolle, dass die Horden von geifernden Jungamazonen, die angeblich in der primitiven Brünftigkeit ihrer trüben, versoffenen und Flaschen schwingenden Schwanz-Ekstase durch die Straßen unseres ruhmreichen Landes streunen, letztlich niemanden belästigen: Nach wie vor werden nur 14% aller Gewaltverbrechen in Großbritannien und Amerika von Frauen begangen, aber dennoch gibt man uns die Schuld am sozialen Niedergang. Dabei ist das Einzige, was wir niederreißen wollen, das morsche Gebäude der moralischen Beurteilung und der sexuellen Repression.

Die neue Spaßpolizei
    Dieser wiederauferstandene Puritanismus wird von der absoluten Libertinage, auf der die moderne Kultur besteht, makaber konterkariert, sodass jede offene Infragestellung der erotischen Glaubenssätze der Werbe- und Pornoindustrie als ›Spaßbremse‹ betrachtet wird: als lustfeindliche Ablenkung von der aufsteigenden Utopie eines befreiten Hedonia in der westlichen Welt. Die Frigidität der merkantilen Erotik ist der Geist bei diesem Festmahl, weshalb fast jede öffentliche Diskussion über Sexualmoral daran scheitert, zwischen dem in der Konsumgesellschaft üblichen Handel mit unmenschlichen sexuellen Phantombildern und richtigem Sex zu unterscheiden. Die Vermutung hinter der von den aufgeblasenen Wortführern der ›Familienwerte‹ dahergebeteten Moralbotschaft ist, dass wir immer
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