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Flammenpferd

Flammenpferd

Titel: Flammenpferd
Autoren: Susanne Kronenberg
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völlig übergeschnappt? Was um alle Welt wollte sie dort mit dem Hengst? Und was würde geschehen, wenn Swantje in ihrer irren Wut dazu stieß?
    Hella riss das Fenster auf. Sie rief und brüllte, aber Jana blieb im Stall verschwunden, in dem die Hölle los war. Vor Hella stiegen die schlimmsten Bilder auf: Fadista, der sich über die Boxenwände hinweg auf die Wallache stürzte, und Jana, wie sie am Boden lag und von Swantje mit einer Forke traktiert wurde. In einem Anflug von Panik schaute sie sich im Zimmer um: da waren das Bett, der ausgediente Sessel, der Kleiderschrank, das umgestürzte Regal und an einem Wandhaken eine zerrissene Trense, daneben zwei sorgsam aufgeschlungene Longen mit zerbrochenen Karabinern, die Thies mit hinauf genommen hatte, um sie bei Gelegenheit in Ordnung zu bringen. Hella schnappte sich die beiden Longen aus Gurtstrippen. Jede Leine war etwa zwei Finger breit und acht bis zehn Meter lang. Das Material war im Lauf der Jahre verblasst und an den Rändern ausgefranst. Hella ging zum Fenster zurück und schaute hinunter. Vor drei Jahren war sie einmal geklettert, in einem Klettersteig in den Dolomiten. Simon hatte sie gesichert und ihr Anweisungen zugerufen, während sie sich zaudernd wie ein Chamäleon von Haken zu Haken gehangelt hatte, ohne zu viel über den Abgrund zu ihren Füßen nachzudenken. Was sollte passieren, sie war ausgerüstet mit Klettergurt, Seil und den richtigen Schuhen und Simon, der auf sie aufpasste. Jetzt hatte sie weder das eine, noch das andere: kein Bergseil, sondern zwei brüchige Longen, Sandalen statt Wanderstiefeln, und niemand anderen in der Nähe als zwei durchdrehende Mädchen.
    Sie lehnte sich aus dem Fenster. Der Hof lag zwei Stockwerke unter ihr. Trotzdem war es weniger die Höhe, die ihr Sorgen bereitete. Unmittelbar unter den beiden einzigen Fenstern, die das Zimmer zu bieten hatte, lag der Abgang in den Keller, der von einem Geländer begrenzt war. Das war nicht einfach nur ein Geländer. Es war die schmiedeeiserne Meisterarbeit eines begabten Großonkels: die enge Reihe aufgestellter Lanzen einer unsichtbaren Armee, von rostigen Spitzen gekrönt, die ihre schneidende Schärfe unter Beweis gestellt hatten, als Thies aus eben diesem Fenster in den Tod gesprungen war.
    Es bedurfte keiner besonderen Anstrengung, die Erinnerung an den aufgespießten Körper hervorzurufen. Das Bild war allgegenwärtig. Jetzt musste sie jeden Gedanken daran aus ihrem Kopf verbannen. Sie versuchte sich zu erinnern, wie der Klettergurt um ihre Oberschenkel und Hüften gelegen hatte, knotete die entsprechenden Schlingen in eine der Longen und stieg hinein. Das freie Ende der Longe verknüpfte sie mit der zweiten Longe. Sie schnippte die Sandalen von den Füßen und zog die Socken aus. Barfuß stieg sie auf die Fensterbank. Das Fenster hatte zwei Flügel, und in der Mitte befand sich ein hölzerner Holm, um den sie nun die Longe schlang. Würde er halten? Prüfend ruckte sie an der Schlinge. Sie atmete tief durch und wickelte die Longe um ihre Unterarme. Der Anfang war das Schwierigste. Irgendwie schaffte sie es, aus dem Fenster zu kommen, sich mit den Beinen gegen die Hauswand zu stemmen und – während sie mit der Longe nachgab – sich Schritt für Schritt nach unten abzuseilen. Das ging leichter, als sie befürchtet hatte. Schon war sie auf der mittleren Etage angelangt und marschierte am Badezimmer vorbei. Die Longe schnitt ihr in die angespannten Unterarme, aber sie spürte den Schmerz nicht. Etwas anderes machte ihr Sorgen. Von den knapp zwanzig Metern der zusammen geknüpften Longen hatte sie einige Meter für die Schlingen benötigt, und ein langes Stück zog sich um ihre Arme. Würde die Länge bis unten ausreichen? Das schlenkernde Ende wurde schnell kürzer. Die bedrohlichen Zaunspitzen kamen näher, und sie zog unwillkürlich den Nacken ein. Dann war sie vorbei, und die Erleichterung riesengroß. Die Ernüchterung folgte. Die Longen hätten ausgereicht, um ebenerdig im verwilderten Rosenbeet zu landen. So aber baumelten ihren nackten Zehenspitzen in Höhe des oberen Rahmens der Kellertür, als sie nichts mehr zum Abseilen hatte. Verglichen mit dem, was hinter ihr lag, erschien es ihr wie ein Katzensprung. Erschöpft ließ sie sich fallen.
    Sie hatte nicht geahnt, wie weh es tut, wenn man aus zwei Metern Höhe mit bloßen Füßen auf Beton aufschlägt. Die Wucht schien ihr die Fersen bis in die Knie zu rammen, und der Schmerz nahm ihr den Atem. Sie konnte nicht
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