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Finnischer Tango - Roman

Finnischer Tango - Roman

Titel: Finnischer Tango - Roman
Autoren: Taavi Soininvaara
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Vorfahren fanden sich Dutzende Ajatollahs und Glaubensgelehrte geringeren Ranges sowie Staatsmänner und Politiker. Er war ein Nachkomme des Propheten in gerader Linie. Seine Familie verfügte über gute Beziehungen zu den Machthabern aller arabischen Staaten; später würde ihm das von Nutzen sein, aber derzeit nicht. Denn jetzt war er nur einer von sehr vielen irakischen »Geistergefangenen«, die nicht in die Gefangenenlisten eingetragen wurden und deren Existenz die Truppen der Koalition nicht einmal den Beobachtern des Internationalen Roten Kreuzes mitteilten.
    Er spürte einen stechenden Schmerz in den Schultern, als die Ventilatorflügel anhielten. Ihm war schwindlig. Erstjetzt bemerkte er, dass er am ganzen Körper zitterte. Aber warum? Er wartete doch ganz gelassen auf die nächsten Säurespritzer. Lieber physischer Schmerz als die Erniedrigungen. Die Briten dachten sich immer neue aus, dabei fehlte es ihnen nicht an Phantasie: Man hatte ihm Frauenunterwäsche angezogen und ihn gezwungen, in widerlichen Gruppenbildern zu posieren, er musste sich die Wunden von in Leichensäcken liegenden Mitgefangenen, in Eis aufbewahrte verstümmelte Tote und die Folterqualen anderer Gefangener ansehen.
    Als ein Stock krachend seinen Oberschenkel traf, zuckte er zusammen und schrie auf, der Schmerz strahlte in seinen ganzen Körper aus.
    »Wo sind Saddam, Udai, Qusai … Wer organisiert die Bombenanschläge in Bagdad … Wer führt den Widerstand in Falludscha?«, schrie die Frau mit schriller Stimme, und ein neuer Schlag klatschte auf die Rückseite seines Oberschenkels. »Sobald du redest, hört das auf.«
    Der Mann stellte sich bewusstlos, manchmal half das. Er konzentrierte sich und dachte an die Folterer und nicht mehr an den bevorstehenden Schmerz. Die Soldatin ließ ihn an Erich Fromms Theorie glauben, wonach an einem Zerstörungssyndrom leidende Menschen sich ihres gestörten Verlangens bewusst waren und es mit brutalen Taten zum Ausdruck brachten. Unter normalen Verhältnissen versuchten solche Psychopathen ihr Verlangen zu kontrollieren, aber unter Kriegsbedingungen oder wenn im normalen Leben alles drunter und drüber ging, brauchten sie sich nicht mehr zurückzuhalten.
    »Der erträgt das noch mal«, flüsterte die Soldatin ihrem Kameraden zu, sie glaubte wohl, er höre es nicht. Und es stimmte, was sie sagte, er würde eine weitere und, wenn es sein musste, auch noch hundert Wellen des Schmerzes aushalten. Er wollte nicht sterben. Kierkegaard hatte seinerzeitbehauptet, ein Geheimnis adele den Menschen und verleihe seinem ganzen Leben eine neue Bedeutung. Der Däne hatte recht gehabt.
    In dem Augenblick trafen die Säuretropfen seine Schenkel, und er zerrte an den Seilen. Ein Schrei entfuhr ihm und hallte von den Wänden des Zellenganges wider. Rasch sank er in die dunkelsten Schichten des Bewusstseins, doch noch schossen ihm Gedanken durch den Kopf; er klammerte sich an ihnen fest und wartete auf das Wasser, das den Schmerz linderte.
    Überlass dich nicht der Verzweiflung, sie beseitigt den Schmerz nicht. Konzentriere dich …
    Ihm fiel Spinozas Rat ein: »Du sollst der Menschen Tun weder belachen noch beweinen, sondern es begreifen.« Er dachte an andere Genies, die so waren wie er, und das gab ihm Kraft. Alle, die in ihrem Leben etwas Großes vollbrachten, hatten schon als Kind auf irgendeine unbestimmte Weise davon gewusst. Sie alle hatten schon als junge Menschen erfahren, dass sie etwas Besonderes waren. Und sie alle hatten sich ihr ganzes Leben lang auch für etwas Besonderes gehalten, für anders als die anderen. Sie waren introvertiert und bescheiden, es sei denn, ihr Auftrag verpflichtete sie zu etwas anderem. Sie alle blieben in jeder beliebigen Situation ganz gelassen, ihnen konnte nichts geschehen; sie betrachteten auch ihr eigenes Leben mit den Augen eines Außenstehenden, eines Allmächtigen. Und sie warteten. Sie alle warteten auf das Schicksal, auf das Ereignis, durch das der Sturm ihrer Genialität losbrechen würde. Er brauchte nicht mehr zu warten.
    Adil al-Moteiri hatte sein Schicksal in den Folterkammern des Kriegsgefangenenlagers Camp Bucca gefunden. Im Kern der Dunkelheit. Jetzt sah er alles aus dem richtigen Blickwinkel. Er würde es nicht dulden, dass er zum Rächer verkam, er würde nicht zulassen, dass Hass und Gewaltseine Sinne trübten. Die Wut und die Kraft, die sich in ihm angestaut hatten, würde er einsetzen, um Unrecht wiedergutzumachen.
    Er hatte den Darb al-sad ma red
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