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Finne dich selbst!

Finne dich selbst!

Titel: Finne dich selbst!
Autoren: Bernd Gieseking
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darf danach oft mindestens einmal nachschenken. Refill! Mit Nachfüllen! Dazu kaufen wir drei Experimente in Teig. Hermann beißt, das Gesicht in einer Erwartungshaltung wie sonst nur C-Prominente bei der nächsten Aufgabe im Dschungelcamp, in das unbekannte Gebäck. Wir kauen. Unsere Mienen entspannen sich. Lecker. Ich hole Kaffee nach. Dann schalte ich wieder das Navigationsgerät ein. Unser erstes Zwischenziel ist Riihimäki. Wir müssen quasi einmal »quer rüber«, um nach Lahti zu gelangen.
    Wir fahren durch baumbestandene Landschaft. Fremd wirkt das nicht. Erinnert alles irgendwie an Ostwestfalen. Bäume. Birken, Tannen. Kiefern. Nur weniger Orte. Landstraßen. Geschwindigkeitsbegrenzungen. Aber kaum Ortsdurchfahrten. Mehr Gegend. Und dabei sind wir hier im am stärksten bewohnten Teil, im Süden Finnlands. Immer wieder sind Baumstämme gestapelt. Ab und an eine Parkbucht. Wenig Verkehr. Ich schaue unwillkürlich zur Tankanzeige. Hätte ich etwa eben tanken sollen? Meine digitale Anzeige sagt, das Benzin reicht noch 640  Kilometer. Bis dahin sollte eine Tankstelle gekommen sein. Bis Lahti sind es etwa 250  Kilometer.
    Es ist merkwürdig still im Auto. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Ich bewundere meinen Bruder. Der hat plötzlich seinen Platz gefunden. Da kommt diese Frau, und schon stellt er sein Leben auf den Kopf, verlässt Deutschland und zieht in ein fremdes Land, mit komplett anderer Sprache, anderer Mentalität – wie ich da noch denke – und vor allem einem komplett anderen Klima. Eltern, Bruder und Freunde zurücklassend. Sogar seine Plattensammlung. Seine Gitarren. Abgeflogen mit kleinem Gepäck.
    »Dass der einfach so nach Finnland gezogen ist«, sage ich mitten in die Stille unserer Fahrt.
    »Versteh ich aber«, sagt Ilse.
    »Wie bitte?«
    »Ja, ich wollte auch immer weg.«
    »Du? Wohin denn?«
    »Ich wollte immer nach Kanada auswandern.«
    »Ist nicht wahr!«
    »Doch.«
    »Hast du mir nie gesagt.«
    »Du weißt so manches nicht.«
    »Wann wolltest du auswandern?«
    »Als junges Mädchen.«
    »Und warum hast du das nicht gemacht?«
    »Man war damals doch erst mit 21 großjährig.«
    »Volljährig meinst du.«
    »Ja, das hieß damals großjährig. Und ich hätte die Unterschrift von Opa gebraucht. Für das Visum, die Arbeitserlaubnis, die ganzen Ausreiseformalitäten.«
    Sie meint ihren Vater. Ferdinand. Den Milchmann. Sie hatte, anders als ihre fünf Brüder, keinen Beruf lernen dürfen, sondern musste im väterlichen Betrieb helfen, im Milchwagen mitfahren und in dem kleinen Milchladen arbeiten, den Opa damals in Mindens Innenstadt hatte. Sie und ihr Vater waren erst mit dem Pferdefuhrwerk, später mit einem Hanomag oder dann Opel die tägliche Route abgefahren und hatten Milch und Butter aus dem Wagen heraus verkauft. Später wurde der Verkaufswagen fast ein kleiner Kiosk.
    »Und?«
    »Hat er mir nicht gegeben. Er meinte, er braucht mich zu Hause.«
    »Und warum bist du nicht gegangen, als du volljährig warst? Mit  21 ?«
    Sie zögert mit der Antwort. Ich schaue kurz zur Seite, aber sie blickt aus dem Seitenfenster, so dass ich ihr Gesicht nicht sehen kann.
    »Na?«
    »Da hatte ich ein Kind.«
    Ich schlucke. Das Kind bin ich. Sie war 20 , als ich geboren wurde. Ich schweige.
    Nach einer Weile sagt sie: »Hermann wollte nicht.«
    »Wieso wolltest du nicht?«, frage ich Richtung Rückbank.
    »Ich war doch grade erst fünf Jahre gewandert. Als Zimmermann. Ich wollte nicht schon wieder weg.« Nach einer Zeit setzt er hinterher: »Und Englisch konnte ich auch nicht.«
    »Mein Bruder und ich hätten kanadische Holzfäller werden können!«
    »Tja.«
    Nachdenklich fahre ich weiter. Mein Bruder hat also den Traum unserer Mutter umgesetzt und ist ausgewandert, ausgewandert in ein nördliches, kaltes Land. Fahren wir jetzt durch Finnland, weil dieser Hang zum Nordischen regelrecht in Axels Genen sitzt?
     
    Um uns herum fließt die endlose finnische Landschaft – leichte Hügel, der stete Wechsel von Bäumen und Wasser, Feldern und Wiesen und ständigen Geschwindigkeitsbegrenzungen. Typisch finnisch bei der Fahrt über Land sind zwei Dinge. Erstens die vielen Blitzautomaten. Vor denen wird jedes Mal gewarnt. »Pass up!«, sagt Ilse, sobald ein Verkehrsschild am Straßenrand steht, darauf ein Piktogramm, das einen alten Fotoapparat zeigt. Dann sollte man die Geschwindigkeit drosseln. Innerhalb der nächsten zwei Kilometer kommt der Blitzer. So sicher wie das Amen in der Kirche. Im Gegensatz zu
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