Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)
ihn zu sehen? Langsam hob er seine Hand, ließ sie fallen und lauschte an der Tür. Er hörte leises Stimmengemurmel, konnte aber keine Worte verstehen. Schließlich fasste er sich ein Herz und klopfte zaghaft an die Tür.
„Herein“, hörte er Heinz‘ Stimme sagen.
Finn öffnete die Tür. Heinz und Lydia saßen am Tisch, auf dem einige Papiere lagen, die sie offenbar gerade studiert hatten. Als sie Finn sahen, stand Lydia auf und lächelte ihm zu, während Heinz die Unterlagen zusammen legte und in einen braunen Umschlag packte.
„Na, war es schön?“, fragte Lydia fröhlich.
„Ja, ich habe viel gesehen“, antwortete Finn. „Und beinahe hätte ich mich verlaufen. Aber dann habe ich den Weg doch gefunden!“, setzte er stolz hinzu.
Lydia lachte. „Ja, sich in einer großen Stadt zurecht zu finden ist nicht ganz einfach. Wie sieht es aus, hast du Hunger? Wir könnten unten in der Wirtsstube Abendbrot essen.“
Finns „Ja“ kam so spontan, dass auch Heinz anfing zu lachen.
„Na dann mal los“, sagte er und legte Finn die Hand auf die Schulter.
„So ungefähr“, dachte Finn, „fühlt es sich also an, Eltern zu haben.“
Und er war sehr glücklich.
Finn hatte sich schon gefragt, wo er schlafen sollte. Tatsächlich bekam er eine kleine Kammer unter dem Dach zugewiesen, in der nur ein eisernes Bettgestell mit einer recht harten Matratze stand. Die Matratze störte ihn weniger, ungewohnt war für ihn nur, alleine zu schlafen. Ihm fehlte das leise Atmen der anderen, er vermisste es, wie der kleine Karl im Schlaf manchmal redete und wie Hans beim Umdrehen grunzte und sogar schnarchte. Aber er war nach dem aufregenden Tag auch recht müde, also schlief er doch endlich ein.
Am nächsten Morgen wurde er von einem Klopfen an der Tür geweckt.
„Aufstehen“, zwitscherte Lydia im Flur. Finn gähnte und lächelte dann.
„Ich komme“, antwortete er. Hastig stand er auf und zog sich an. Dann ging er die Treppe hinunter und zu dem kleinen Bad am Ende des Flurs, den ihm Lydia tags zuvor gezeigt hatte. Das Wasser war kalt, und Finn schrubbte sich das Gesicht, bis die Haut knallrot leuchtete. Schließlich
fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare, betrachtete das Ergebnis und entschloss sich, doch noch kurz in sein Zimmer zurück zu gehen und den Kamm zu benutzen.
Nach wenigen Minuten war er fertig und ging zum Zimmer seiner Eltern, um anzuklopfen. Beide waren angezogen und lächelten ihm zu, als er den Raum betrat.
„Na, bereit, einen neuen Tag in Angriff zu nehmen?“, fragte Heinz lachend mit Blick auf Finns frisch geschrubbtes Gesicht.
Finn nickte.
„Gut, dann fangen wir mal mit dem Frühstück an“, schlug Heinz vor.
Der düstere Speiseraum, in dem sie gestern das Abendessen gegessen hatten, war kaum wieder zu erkennen. Die Sonne schien durch die gelb getönten Scheiben und tauchte alles in ein goldenes Licht. Kleine Staubflocken tanzten durch den Raum, und einer der Tische war gedeckt mit Brötchen und Marmelade. Finn liebte Brötchen und Marmelade. Im Heim hatte es das nur ganz selten gegeben; meistens bekamen die Kinder einen dicken Brei, der zwar satt machte, aber längst nicht so gut schmeckte wie Brötchen.
Die drei setzten sich und begannen zu essen.
Nach einer Weile sagte Heinz: „Wenn wir mit dem Frühstück fertig sind, wollen wir dir ein bisschen neue Kleidung kaufen. Deine Hose und dein Hemd sehen doch ein wenig fadenscheinig aus.“
Neue Kleidung! Finn hatte kaum jemals ein wirklich neues Kleidungsstück besessen. Im Waisenhaus wurde alles so lange getragen, bis es buchstäblich auseinander fiel. Normalerweise bekam man die Kleider von einem größeren Kind, welches aus seinen Sachen herausgewachsen war, und im Allgemeinen hatte schon dieses Kind Hemd und Hose nicht neu bekommen, sondern sie waren von irgendwelchen mildtätigen Leuten gespendet worden – oder von Menschen, die damit angeben wollten, dass sie es nicht nötig hatten, alte Kleidung aufzubewahren.
Mehr als einmal war es Finn passiert, dass er in einem Hemd in die Schule gegangen war, welches vorher dem Sohn des Kaufmanns gehört hatte, der sich dann hinter vorgehaltener Hand darüber lustig machte.
Und jetzt sollte ihm, Finn, gleich ganz neue Kleidung gehören, Kleidung, die nur für ihn alleine gekauft worden war!
Plötzlich mochte er kein Frühstück mehr essen. Mehr schlecht als recht würgte er seine Brötchenhälfte herunter und begann, aufgeregt auf seinem Stuhl herum zu rutschen.
Seine
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