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Fiebertraum

Fiebertraum

Titel: Fiebertraum
Autoren: George R.R. Martin
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ist keiner von der Sorte, der man etwas verweigert.«
    Abner Marsh erzeugte einen unfreundlichen Laut tief in seiner Kehle, steckte seine Uhr wieder in die Tasche und wandte sich wortlos um und entfernte sich mit langen, festen Schritten durch die prachtvoll ausgestattete Hotelhalle. Er war ein großer Mann und nicht gerade der geduldigste, und er war an geschäftliche Treffen um Mitternacht nicht gewöhnt. Er trug seinen Spazierstock mit lässiger Gebärde, als hätte er nie einen Rückschlag erlebt und als wäre er noch immer der Mann, der er einmal gewesen war.
    Der Speisesaal war fast genauso erhaben und luxuriös wie der Hauptsalon auf einem Dampfboot, mit Kronleuchtern aus geschliffenem Glas und polierten Messingarmaturen und Tischen, die mit feinstem Leinen und bestem Porzellan und Kristall gedeckt waren. Während der normalen Stunden hätten an diesen Tischen scharenweise Reisende und Dampfbootleute gesessen, aber nun war der Raum leer, die meisten Lampen waren gelöscht. Vielleicht ließ sich doch etwas Positives über solche mitternächtlichen Treffen sagen, überlegte Marsh; wenigstens brauchte er sich keine Beileidsbezeugungen gefallen zu lassen. Unweit der Küchentür standen zwei farbige Kellner und unterhielten sich leise. Marsh beachtete sie nicht und ging zum anderen Ende des Saales, wo ein gepflegt gekleideter Fremder saß und alleine speiste.
    Der Mann mußte gehört haben, wie er näher kam, aber er blickte nicht auf. Er war damit beschäftigt, Mockturtle-Suppe aus einer Porzellanschüssel zu löffeln. Der Schnitt seines langen schwarzen Rockes machte deutlich, daß er kein Flußmann war; dann wohl einer aus dem Osten oder vielleicht jemand aus Übersee. Marsh sah, daß er groß war, wenngleich auch bei weitem nicht so groß wie Marsh; sitzend vermittelte er den Eindruck von Höhe, aber er hatte nicht Marsh’ Statur. Zuerst hielt Marsh ihn für einen alten Mann, denn seine Haare waren weiß. Dann, als er näher kam, erkannte er, daß sie gar nicht weiß waren, sondern von einem sehr fahlen Blond, und plötzlich machte der Fremde einen fast jungenhaften Eindruck. York war glattrasiert, und seine Haut war so hell wie sein Haar. Er hatte Hände wie eine Frau, dachte Marsh, als er vor dem Tisch stand.
    Er klopfte mit seinem Stock auf den Tisch. Die Tischdecke dämpfte das Geräusch und ließ es wie ein leises Pochen erklingen. »Sind Sie Josh York?« fragte er.
    York blickte auf, und ihre Augen trafen sich.
    Bis zum Ende seiner Tage würde Abner Marsh sich an diesen Moment erinnern, an diesen ersten Blick in die Augen von Joshua York. Was immer er an Gedanken gehabt hatte, was immer die Pläne waren, die er geschmiedet hatte, alles wurde von dem Maelstrom in den Augen von Joshua York aufgesogen. Junge und alter Mann und Dandy und Fremder, all dies war im Nu verschwunden, und da war nur noch York, der Mann selbst, die Macht in ihm, der Traum, die Kraft, die Stärke.
    Yorks Augen waren grau, erstaunlich dunkel in einem so blassen Gesicht. Seine Pupillen waren stecknadelkopfgroß, brannten schwarz, und sie drangen in Marsh ein und erforschten seine Seele bis auf den Grund. Das Grau um sie herum schien lebendig zu sein, es bewegte sich wie Nebel auf dem Fluß in einer finsteren Nacht, wenn das Ufer verschwindet und die Lichter verblassen und dann nichts mehr da ist auf der ganzen Welt außer dem Boot und dem Fluß und dem Nebel. In diesem Nebel sah Abner Marsh Dinge; Visionen, eben noch geschaut und schon wieder verschwunden. Eine kalte Intelligenz starrte aus diesen Nebelschwaden heraus. Aber da war auch ein Raubtier, düster und furchteinflößend, angekettet und rasend, den Nebel verfluchend. Gelächter und Einsamkeit und grausame Leidenschaft. York hatte all das in seinen Augen.
    Aber am meisten war Macht in diesen Augen, eine schreckliche Macht, eine Kraft so unbarmherzig und gnadenlos wie das Eis, das Marsh’ Träume zerquetscht hatte. Irgendwo in diesem Nebel spürte Marsh, wie das Eis sich bewegte, langsam, so langsam, und er konnte das furchtbare Splittern seiner Boote und das Zerbrechen seiner Träume hören.
    Abner Marsh hatte sich schon mit vielen Männern in seinem Leben Blickduelle geliefert, und er hielt dem Blick lange stand. Dabei krampfte seine Hand sich so fest um den Spazierstock, daß er befürchtete, er würde ihn in zwei Teile zerbrechen. Aber am Ende senkte er den Blick.
    Der Mann am Tisch schob seine Suppe beiseite, machte eine Geste und meinte: »Cap’n Marsh. Ich habe Sie
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