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Feuer der Götter: Roman (German Edition)

Feuer der Götter: Roman (German Edition)

Titel: Feuer der Götter: Roman (German Edition)
Autoren: Stefanie Simon
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zwölfzackigen Blätter des Anguas strich. Warm umspielte Ajas Zunge sein Handgelenk. Tränen flossen an ihrem Schnabel entlang – man sagte nicht umsonst, schneller als ein Kind weine nur ein Axot. Ihm selbst steckte etwas im Hals, das sich anfühlte, als könne es nur aus den Augen wieder heraus. Dieses sonst so bockige, lärmende, manchmal lästige Tier stand ihm nahe wie sonst kein Wesen.
    Ja … ja … Aja versteht.
    Lächelnd küsste er ihre Stirn, dann entzog er sich ihr. »Und jetzt halt still und lass dich festbinden. Es ist nur für kurze Zeit.«
    Sie legte den Kopf an den Körper, die Geste der Unterwerfung. Royia achtete darauf, dass die Priesterschüler ihren Schnabel vorsichtig zusammenbanden und das Seil an einem der Äste festmachten. Kaum hatte er sich ein Stück entfernt, begann Aja wieder an den Seilen zu zerren und in seinem Kopf zu klagen. Ruhig, Mädchen, ruhig. Er folgte dem Toxinacen über hängende Treppen, über Brücken und weitere breite Äste, die als Laufwege dienten. Eine der Hängebrücken führte über einen Abgrund und endete auf einem halbkreisförmigen Felsplateau, das der Gott-Eine vor Urzeiten in den Berg geschlagen hatte. Der ehrwürdige Kreis der Toxinacen, der Priester der vierzehn Götter, erwartete ihn. Der Priester, der ihn hergeführt hatte, nahm seinen Platz in ihrer Reihe ein. Hinter ihnen wartete der schwarzgähnende Eingang in den Berg gleich einem geöffneten Schlund – der Weg, den er jetzt gehen musste.
    Unwiderruflich.
    »Royia!« Die Stimme seiner Lehrmeisterin, wie stets kühl und ehrfurchtgebietend, hallte von den Felswänden wider. »Du bist spät.«
    Xocehe wartete in der Mitte der Plattform, die Toxinacen hinter ihr. Das Sonnenlicht ließ ihr aus Schnüren und polierten Holzstäbchen gefertigtes Gewand, das ihren Körper fest umschloss, metallisch glänzen. Xocehe sah nicht nur streng aus, sie war es auch, also beeilte er sich, vor sie zu treten und den Kopf zu neigen. Auch sie war einst durch den Jadegang geschritten. Als einzige war sie wieder zurückgekehrt, um andere Erwählte im Erdulden von Schmerzen zu unterweisen und ihre Wunden zu heilen. Heute schenkte sie ihm nicht nur ihr seltenes Lächeln; sie strich ihm zärtlich über die Wange und fasste seine Schulter. »So sehen wir uns also zum letzten Mal. Der Berg erwartet dich.«
    Sie kehrte ihm den Rücken zu und legte den Kopf in den Nacken. Sein Blick folgte ihrem, den steilen Berg hinauf. Üppig waren seine grünen Hänge, in denen beständig Nebelschwaden tanzten, weil alles von saftigem Leben erfüllt war. Prächtige, farbenfrohe Vögel stoben aus dem Blattwerk und stießen wieder hinein, lange Schwanzfedern hinter sich herziehend. Kam ein Windstoß, wehten schillernde Blüten und Pollen hervor, deren schwerer Duft selbst hier unten zu erahnen war. Alles atmete die Lust an der Herrlichkeit. Vom Bergpalast selbst sah man nichts. Hundert Türme besaß er, und die Hochebene dahinter war so groß, dass man tagelang darin umherstreifen und jagen konnte.
    Schönheit über Schönheit erblickt das Auge, sagte ein altes Lied . Gold, Silber, Edelsteine. Wasser, das munter aus Quellen sprudelt. Vögel, die sich auf der Schulter niederlassen. Wild, das durch Gärten zieht. Keine Furcht mehr vor den allgegenwärtigen Gefahren des Waldes. Keine Leiden, keine Schmerzen. Ein Leben in Licht und Sonne; und kein Gott, sofern er atmet, denkt und liebt, sehnt sich wieder fort …
    Sein Herz schlug schnell. Es war so weit, heute würde er das Leben im Licht kennenlernen. Dazu war er von Geburt an bestimmt. Er drehte sich um. Vor seinen Augen breitete sich der grüne Teppich seiner Heimat aus, scheinbar endlos bis zum Horizont reichend – die ineinander verflochtenen Baumkronen gewaltiger Anguas, Memecuces, Acatecos. In ihnen hatte er sein junges menschliches Leben gelebt. Es war nicht leicht, das Vertraute hinter sich zu lassen. Trotz der Schmerzen, die ihm stete Begleiter gewesen waren.
    »Royia, komm«, lockte Xocehe hinter ihm.
    Er wandte sich ihr zu.
    »Der letzte Tique, der Gott des zehnten Mondes, ist nach über dreihundert Jahren in das Weiße Jenseits der Götter eingegangen.« Feierlich legte sie die Handflächen aneinander. »Also berief der Gottherrscher einen neuen Gott, um seinen Platz einzunehmen: dich, Royia. Von nun an bist du Tique, der Gott der Jagd und der Diebe.«
    Der Gedanke, dass jemand stahl und dabei zu ihm betete, schien ihm befremdlich. Wie es sich wohl anfühlte, wenn das Flehen der
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