Fesseln der Erinnerung

Makellosen Medialen bezeichnen die anderen Gattungen als ‚unrein ‘ in Ermanglung eines besseren Wortes. Ohne Zweifel ist Nikita das Ziel von Anschlägen geworden, weil sie starke geschäftliche Verbindungen zu Gestaltwandlern pflegt.“
    Sieh mal einer an, ließ sich Kalebs Stimme in Nikitas Kopf vernehmen, scheint ganz so, als würden hier die sonderbarsten Verbindungen zutage gefördert.
    Er könnte versteckte Motive haben, antwortete Nikita. Wir sollten abwarten.
    „Uns von anderen Gattungen fernzuhalten ist nicht das Schlechteste“, meinte Henry. „Nur vollkommene Isolation brächte makellose Reinheit mit sich.“
    Kühl und beherrscht meldete sich Anthony Kyriakus zu Wort. „Wenn du das glaubst, bist du ein Narr.“
    Shoshanna hatte schnell eine Antwort parat. „Nur bei den Schwächeren unseres Volkes besteht die Gefahr eines Bruchs der Konditionierung –“
    „Dann zählst du zwei Kardinalmediale und eine außergewöhnlich begabte Wissenschaftlerin zur Gruppe der Schwachen?“, fragte Anthony in ruhigem Ton, der aber deshalb nicht weniger gefährlich klang. „Es wird Zeit, sich den Tatsachen zu stellen. Silentium bröckelt nicht nur bei Randgruppen, und wenn wir nicht bald etwas unternehmen, riskieren wir einen Zusammenbruch des Systems mit unabsehbaren Folgen.“
    Nun schaltete sich auch Tatiana in das Gespräch ein. „Sicher ist es nicht ganz so dringend. Es hat einige Vorfälle gegeben, das stimmt, aber nichts deutet auf einen möglichen Notfall hin, der das ganze Medialnet betrifft.“
    Mings Verstand arbeitete eiskalt und rasiermesserscharf. „Vor ein paar Monaten ist mir ein Vorfall im Sunshine-Abbruchgebiet aufgefallen.“
    „Eine Massenpsychose“, stellte Nikita klar, sie hatte zwar nicht direkt damit zu tun gehabt, aber bei ihrer Recherche sofort festgestellt, dass es über hundert Tote gegeben hatte.
    „Ja. Damals schien es sich nur um eine einmalige Anomalie zu handeln, aber erst vor drei Tagen ist es erneut zu einem Vorfall auf einer Forschungsstation in der russischen Steppe gekommen.“
    „Wie viele Tote?“ Kaleb ergriff zum ersten Mal das Wort.
    „Dreihundert“, antwortete Ming. „Und von den fünfzig Überlebenden müssen mindestens dreißig in die vollständige Rehabilitation. Ihr Verstand ist unrettbar verloren.“
    Einen Augenblick trat Stille ein, die Nachricht musste erst einmal verarbeitet werden. Nikita meldete sich als Erste zu Wort und machte ihren Standpunkt deutlich. „Wir können nicht einfach so weitermachen und massenhaft Leute rehabilitieren. Das ist, als würde man versuchen, einen größeren Dammbruch aufzuhalten, indem man das erste Loch mit dem Finger stopft.“
    „Rehabilitation ist der Schlüssel zur Stabilität“, widersprach Henry. „So werden die defekten Teile der Bevölkerung – “
    „Wie viele denn noch?“, fragte Nikita, immer noch im kalten Silentium, auf das sie von Kindesbeinen an konditioniert war – das so tief in ihr verwurzelt war, dass nichts es erschüttern konnte. „Erst damit aufzuhören, wenn niemand von unserem Volk mehr lebt, ist doch sinnlos.“
    „Wie melodramatisch“, ließ sich Tatiana vernehmen. „Es ist immer noch nur eine Minderheit, die Probleme hat. Du hast doch selbst gesagt, dass immer mehr Personen sich freiwillig rekonditionieren lassen. Das Ganze wird sich schließlich von selbst erledigen.“
    „Was das betrifft, Ratsfrau“, schaltete sich Anthony ein, „scheinst du die Berichte nicht gründlich gelesen zu haben.“
    Shoshanna unterbrach die plötzlich eingetretene Stille. „Was meinst du damit, Anthony?“
    „Die Anzahl der Individuen, die ihre Konditionierung freiwillig überprüfen lassen, ist in den letzten beiden Monaten signifikant zurückgegangen.“
    „Das ist unmöglich“, hielt Henry dagegen. „Ich habe mich doch über die Zahlen laufend informiert.“
    „Dann wirst du entweder von irgendjemandem belogen“, meinte Nikita trocken, „oder hast die Angaben falsch interpretiert. Tatsache ist, im Medialnet erheben sich viele Stimmen – “
    „Das Gespenst“, unterbrach sie Shoshanna – das war der berüchtigtste Rebell im Medialnet – „verbreitet aufwieglerische Losungen.“
    „Nein“, widersprach Nikita, „was er sagt, entspricht nur der Wahrheit – die Gewalttätigkeiten, die zu den Rekonditionierungen führten, waren kein Zufall, sondern geplant. Sie sollten das Volk wie Schafe in die Arme des Zentrums treiben. Anscheinend mögen selbst Mediale es nicht, offen manipuliert zu