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Feind des Feindes

Feind des Feindes

Titel: Feind des Feindes
Autoren: Jan Guillou
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sich hinein und reckte den Mittelfinger mit einem letzten Abschiedsgruß an die Kollegen in die Höhe. Dann schlug er die Tür zu, schloß ab und ging auf das Vorortzentrum zu, von wo aus er sicherlich einen Bus in die Innenstadt finden würde.
    Jetzt blieb nur noch ein Problem. Etwa eine Stunde vor Ablegen der Fähre mußte er den Ersten Steuermann erwischen. Welcher Mann an diesem Tag auch den Dienst versah, es war der Mann des GRU, mit dem er an Bord ein paar Worte unter vier Augen wechseln mußte. Dann würde er für immer aus dem Blickfeld des schwedischen Sicherheitsdienstes verschwinden.
    Und dann würden sie endlich für alles bezahlen.
    Er stellte sich eine lange Bahnreise von Tallinn über Leningrad nach Moskau vor.
    Er irrte sich. Nachdem er vierundzwanzig Stunden in Tallinn eingesperrt worden war, wurde er abgeholt und mit einer Militärmaschine direkt zum alten Flughafen von Moskau gebracht. Als die Maschine auf ein hohes Gebäude am hinteren Ende des Flughafens zuzurollen begann, ging ihm auf, wohin man ihn gebracht hatte. Das Gebäude war nicht nur eins der am besten bewachten Bauwerke der Welt, sondern auch eins der legendenumwobensten. Es war Zentral , wo etwa fünftausend Menschen arbeiteten; das Herz im weltumspannenden Netz des GRU.
    Achtundzwanzig Stunden nach der Flucht des sowjetischen Spions Stig Sandström oder, um der offiziellen schwedischen Terminologie zu folgen, »nach dem Mißbrauch seines Hafturlaubs«, wurde in Schweden eine landesweite Fahndung nach ihm ausgelöst. Um diese Zeit war er schon sechs Stunden lang im Hafen von Tallinn in einem unaufgeräumten Zimmer eingeschlossen gewesen.
    Aus sowjetischer Sicht oder vielmehr der des GRU stellte sich jetzt die Hauptfrage, was es mit dieser unglaublichen Fluchtgeschichte auf sich hatte. Falls die Flucht von schwedischen oder anderen westlichen Behörden arrangiert worden war, um dem GRU einen Infiltranten als Laus in den Pelz zu setzen, war die Konsequenz einfach und logisch. Dann würde Stig Sandström für immer verschwinden, am besten nach einem Geständnis.
    Falls sich jedoch das Unmögliche bestätigen sollte, daß ein zu lebenslänglicher Haft verurteilter Spion ohne jede Bewachung Hafturlaub bekommen kann, würde die Frage auftauchen, ob und auf welche Weise man sich des früheren Informanten bedienen konnte.
    Das Risiko, allzu unsichere Schlußfolgerungen zu ziehen, war nicht unbedeutend. Und für Jurij Tschiwartschew, offiziell Militärattaché im Rang eines Obersten in der Botschaft der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, in Wahrheit jedoch Beauftragter des GRU in Skandinavien und Generalmajor, mußte früher oder später seinen Namen unter einen Bericht setzen, der ihn vielleicht seine Karriere kosten konnte, bestenfalls nur sie.
    Es war also unerhört wichtig, daß Zentral einen korrekten Bericht mit einer zutreffenden Analyse der Ereignisse erhielt. Doch würden die Kollegen in Moskau vermutlich schwer zu überzeugen sein.
    Diese letzte Vermutung beruhte auf Jurij Tschiwartschews spontaner und intuitiver Schlußfolgerung: In keiner mittelamerikanischen Bananenrepublik, selbstverständlich auch nicht in einem der »harten« westlichen Länder, jedoch auch nicht irgendwo in der Dritten Welt, in einem sozialistischen Staat oder auch nur in einem der »weichen« westlichen Staaten wie Österreich oder Finnland, würde ein zu lebenslänglicher Haft verurteilter sowjetischer Spion während eines unbewachten Hafturlaubs einfach davonspazieren und mit neuem Paß, neuem Aussehen und Geld in der Tasche, das er von den Behörden in Form von Pension und Krankengeld erhalten hatte, außer Landes reisen können. In keinem einzigen Land der Erde. Mit Ausnahme Schwedens. Es war also theoretisch möglich, daß es sich um eine echte Flucht handelte.
    Im übrigen fiel es Jurij Tschiwartschew schwer zu glauben, daß schwedische Sicherheitsorgane den Mut aufbrachten oder auch nur die Logistik hatten, eine Operation nach britischem oder amerikanischem Vorbild aufzuziehen.
    Hätte sich das Ganze in Großbritannien ereignet oder in irgendeinem anderen westlichen Land, hätte der Doppelagent nach seiner Ankunft nicht mehr lange zu leben gehabt. Doch hier ging es nun um Schweden, und das stellte jede Logik auf den Kopf.
    Jurij Tschiwartschew seufzte, stand auf und unternahm einen seiner gewohnten Spaziergänge in seinem geräumigen Dienstzimmer, um nachzudenken. Er blieb am Fenster stehen und warf einen nachdenklichen Blick auf die blaue
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