Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fehlschuss

Fehlschuss

Titel: Fehlschuss
Autoren: Anna Geller
Vom Netzwerk:
bedurfte es nur
einer viertel Flasche Whisky morgens um zwei. Um Fotografien in Silberrahmen zu
vergessen und nackte, bleiche Zehen mit gelblichen Nägeln.
    Er fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Es gab auch nicht viel zu
träumen im Moment. Nichts, was den Adrenalinspiegel oder die Pulsfrequenz in
die Höhe getrieben hätte. Kein noch so winziger Flirt an der Theke, kein Blicke
tauschen im Supermarkt. Das Leben lief einfach weiter, wie im luftleeren Raum.
    Es war nicht einmal mehr die Zeit, zu trauern. Da war kein Ring mehr
in seiner Brust, der ihm das Herz zusammenzudrücken schien. Immer dann, wenn er
überhaupt nicht damit rechnete. Auf der Straße, im Café oder im Gerichtssaal.
Das war längst vorbei. Zwei Jahre schon.
    Das mit dem Schmollmund war frischer. Und es war auch gleich wieder
da, als Chris aufwachte. Außerdem spürte er den Whisky in seinem Kopf. Er
duschte noch einmal lang und ausgiebig und nahm zwei Aspirin gegen das dumpfe
Brummen im Schädel. In der Küche wurde „Grete, die Fischfrau“ nur mit einem
knurrigen „Mojn“ bedacht. Er begrüßte den Holzschnitt einer grotesk fetten
Mamsell mit freundlichem Gesicht jeden Morgen — meistens jedoch etwas netter.
Aber Grete konnte sich ja nicht beschweren.
    Er brühte Kaffee und briet sich Eier mit Speck. Wie das Wohnzimmer war
auch die Küche eine Mischung aus Alt und Neu. Die Erbstücke seiner Tante aus
diesem Bereich hatte er zum großen Teil dem Sperrmüll übergeben müssen. Die
Geräte waren nämlich beinahe genauso alt gewesen wie die Möbel. Aber ein
fünfzig Jahre alter Gasherd war nicht antik, sondern einfach lebensgefährlich.
Also hatte er in eine moderne Küchenzeile investiert und nur den runden Esstisch
mit den geschwungenen Füßen und die passenden Stühle seiner Tante übernommen.
    Nach den Eiern und einer halben Kanne Kaffee fühlte er sich besser,
konnte halbwegs klar denken. Ob die Mühlen der Polizei schon soweit in Gang
gekommen waren, dass es Neuigkeiten gab? Irgendwo musste er ja anfangen. Musste
er irgendwo anfangen? Susanne war eine gute Polizistin, und sie würde nicht
locker lassen, bis sie denjenigen gefunden hatte, der für den Tod von Ingeborg
Lautmann verantwortlich war. Es gab wirklich keinen Grund, sich einzumischen.
Er hatte genug anderes zu tun! Eickboom Juniors Prozess; es galt, Schriftsätze
für einige andere Strafsachen zu verfassen; Klageschriften zu lesen; die wahren
Fluten von Gesetzesblättern, die Änderungen mitteilten, durchzuackern; und zwei
Mandanten warteten in der Justizvollzugsanstalt Ossendorf auf ihn. Er konnte
sich nicht auch noch diesen Fall an den Hals hängen. Wirklich nicht!
    Nun, anrufen könnte er Susanne wenigstens, einfach der Information
halber. Aber zunächst musste er seine Einkäufe erledigen. Es gab immer noch
Geschäfte in den Stadtvierteln, die samstags nachmittags dicht machten.
Missmutig packte er das Altpapier in zwei Klappkörbe und schleppte sie nach
unten. Die Tonnen im Keller waren mal wieder voll — also würde er das Zeug zur
Deponie fahren müssen.
    Draußen brauchte er ein, zwei Sekunden, um sich zu erinnern, wo er
letzte Nacht den Wagen abgestellt hatte. Während die Körbe mit dem Altpapier
von Schritt zu Schritt schwerer wurden, kam er an der kleinen Imbissbude auf
der Ecke vorbei. Als ihm der Geruch von Fritten in die Nase stieg, verspürte er
fast schon wieder Hunger. Currywurst und dazu fettige Fritten mit Mayo — sein
heimliches Laster.
    Entschlossen stapfte Chris weiter. Das Papier wog jetzt mindestens eine
Tonne. Hein, der Besitzer des Kiosks auf der anderen Straßenseite, stand in
Schlabberhosen und Pantoffeln in der Sonne und wartete auf Kundschaft.
    „Brauchste Hilfe, Jung?“, rief er fröhlich herüber und hob grüßend die
Hand.
    Chris verzieh ihm natürlich den „Jung“. Für den Urkölner waren alle
„Jung“ oder „Mädchen“, Teenager genauso wie hundertjährige Greise.
    „Danke, Hein“, keuchte er, „bin gleich da. Leg mir schon mal ´ne
Stange weg!“
    Die Antwort hörte er nicht mehr, weil sich ein LKW zwischen sie schob
und mit pfeifenden Bremsen auf der Fahrbahn stehen blieb. Er war jedoch sicher,
dass Hein ihm eine Stange seiner Zigarettenmarke zurücklegen würde.
    Als Chris die Körbe schließlich in den Kofferraum wuchtete, stand ihm
der Schweiß auf der Stirn. Nur zögernd stieg er in den Wagen. Gestern Abend war
er zu erschöpft gewesen, um es wirklich wahrzunehmen. Jetzt aber war es ihm
mehr als bewusst. Da neben ihm
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher