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Fatal - Roman

Titel: Fatal - Roman
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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2005
    Augenfarbe: Blau
    Haarfarbe: Blond
    Entführt am: 24. 1. 2006*
    Ellen schloss die Augen. Beide hatten blondes Haar und blaue Augen. Beide waren ungefähr gleich alt. Will war am 30. Januar drei Jahre alt geworden. Sie betrachtete sich das Foto genau, studierte jeden Gesichtszug des vermissten Jungen. Die Ähnlichkeit begann bei den runden Augen, die weit auseinanderstanden. Aber beide hatten auch kleine Nasen und das gleiche schiefe Lächeln. Vor allem aber schien ihr Gesichtsausdruck identisch zu sein, ein fester, ruhiger Blick, mit dem sie in die Welt sahen.
    Sehr merkwürdig .
    Sie las die Bildunterschrift noch einmal, und erst jetzt bemerkte sie das Sternchen hinter dem Entführungsdatum. Es wies darauf hin, dass das Foto des Jungen seinem jetzigen Alter angepasst worden war. »Seinem jetzigen Alter angepasst«? Ellen verstand zunächst nicht, aber dann begriff sie. Das Foto von Timothy Braverman war kein aktuelles Foto. Per Computer hatte man das Foto so lange bearbeitet, bis der Junge so aussah, wie er wohl heute mit drei Jahren aussehen würde. Ellen war erleichtert - unerklärlicherweise -, und sie dachte an den Tag zurück, an dem sie Will zum ersten Mal begegnet war.

    Sie hatte damals eine Reportage über Krankenschwestern gemacht, die auf der Intensivstation für herzkranke Kinder am Dupont Hospital in Wilmington arbeiteten. Will war dort wegen eines Ventrikelseptumdefekts, einem Loch in der Herzscheidewand, behandelt worden. Ein Winzling in Windeln, der am Ende der sonnendurchfluteten Station in einem hohen Gitterbett lag. Er war zu klein für sein Alter und wollte auch nicht weiterwachsen; sein Kopf schien gefährlich lose auf einem fleischlosen Gerippe zu hängen. Seine großen blauen Augen fielen Ellen als Erstes auf. Mit ihnen erfasste er alles um sich herum, Menschen allerdings sah er nicht an. Nie suchte er jemanden mit seinem Blick, was ein Zeichen dafür war, dass er vernachlässigt worden war, wie man Ellen erklärte. Kein Plüschtier leistete ihm Gesellschaft, kein buntes Mobile hing an den Gittern seines Bettes, wie bei allen anderen Kindern in der Station.
    Sie sah ihn zum ersten Mal, als er die erste Herzoperation gerade hinter sich, die zweite noch vor sich hatte. Bei der ersten war das Loch mit einem Dacron-Transplantat geschlossen worden, bei der zweiten sollte das Transplantat repariert werden, weil sich ein Faden gelockert hatte. Er lag ganz still da, ohne zu weinen oder zu jammern, umgeben von Monitoren, die in roter, grüner und blauer Leuchtschrift seine Lebenszeichen übermittelten. Er war mit so vielen Schläuchen verbunden, dass es aussah, als hätte man ihn angekettet. Ein Sauerstoffschlauch war unter seiner Nase befestigt, ein Schlauch, der ihm Nahrung zuführte, verschwand in einem Nasenloch, und ein dritter, durchsichtiger, aus dem Flüssigkeit in einen Plastikbehälter entleert wurde, kam aus seiner Brust. Ein Infusionsschlauch
schlängelte sich zu einer Hand. Dort war er festgeklebt und mit einer Plastikmanschette überzogen, damit er ihn nicht abriss. Doch anders als die anderen Babys versuchte Will nie, den Schlauch abzureißen.
    Ellen setzte ihre Recherchen fort und besuchte dabei Will öfter als notwendig. Aus der Reportage wurde eine Artikelserie. Einmal erzählte sie aus der Perspektive der Krankenschwestern, einmal aus der Sicht der Kinder. Es war die Stille unter all den lallenden, krähenden und weinenden Babys, die sie nicht losließ. Die Vorschriften der Intensivstation verboten ihr, direkt an Wills Gitterbett zu treten, aber aus einer gewissen Entfernung durfte sie ihn beobachten. Er schaute immer nur zur leeren weißen Wand, aber eines Morgens trafen sich ihre Blicke, er sah sie an mit seinen Augen, die blau wie das Meer waren. Sofort sah er wieder weg, doch mit der Zeit wurde der Blickkontakt länger, als suchte er eine Verbindung zu ihr. Ellen spürte, dass der Junge sie mochte. Später, als alle fragten, warum sie Will adoptiert hatte, antwortete sie:
    Es war die Art, wie er mich ansah.
    Will bekam nie Besuch. Eine Mutter, deren kleine Tochter auf eine Herztransplantation wartete, erzählte Ellen, dass er der Sohn eines ledigen jungen Mädchens sei, das ihn nach seiner ersten Operation nie mehr besucht hatte. Ellen wandte sich an die Sozialarbeiterin, die für seinen Fall zuständig war, und erfuhr, dass eine Adoption möglich sei. In der darauffolgenden Nacht hatte sie vor Freude nicht einschlafen können. Und diese Freude hatte sie in den letzten
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