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Falkengrund Nr. 29

Falkengrund Nr. 29

Titel: Falkengrund Nr. 29
Autoren: Martin Clauß
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Jaqueline und Dorothea, die schräg hinter ihr standen und deren Blicke sie förmlich in ihrem Rücken spüren konnte. Das Tier dagegen war überhaupt nicht neugierig. In dem Moment, in dem die junge Frau über die Türschwelle in den schmalen Flur kam, schien sie sie vollkommen erfasst, durchschaut, eingeordnet zu haben. Nichts schien es mehr zu geben, was die Katze nicht über sie wusste.
    Die Blicke des Tieres taten etwas ganz anderes mit ihr als sie zu betrachten – sie gaben ihr etwas. Flößten ihr etwas ein. Eine Verbindung entstand zwischen ihnen, wie ein unsichtbares Band, das zwischen ihnen gespannt wurde.
    „Ich glaube fast, die beiden verstehen sich“, hörte sie Jaquelines Bemerkung im Hintergrund, und die kluge Jaqueline kam ihr plötzlich furchtbar primitiv und einfältig vor. Sie fragte sich, ob die beiden überhaupt annähernd mitbekamen, was mit ihr vorging.
    Ja, und was ging eigentlich mit ihr vor?
    Sie hatte zugestimmt, mit ihren Kommilitoninnen nach Hausach zu fahren, zu der kleinen Mietswohnung, in der sie ihre Detektei eingerichtet hatten. Über die Geschichte mit dem versteckten Geld war sie informiert – Jaqueline hatte ausführlich über ihre Begegnung mit Thilo Birk berichtet, dem Sohn der hier zu Tode gekommenen alten Dame. Die Katze hatte in ihrer Not das Fleisch der Toten gefressen, als sie wochenlang mit der unentdeckten Leiche in der Wohnung eingesperrt war. Diese besondere Diät, zusammen mit der Todesangst der Katze, hatte übernatürliche Kräfte in dem Tier geweckt: die Fähigkeit, durch Wände zu gehen.
    Seit der Sekunde, in der sie der Katze gegenübersaß, war Isabel überzeugt, dass dieses Geschöpf noch viel mehr vermochte. Sie spürte einen gewaltigen Intellekt, ein nahezu menschliches Denkvermögen, oder etwas, was noch darüber hinausging. Und da war eine Art Einfluss, kein Zwang, aber ein … hypnotischer Strom, den das Tier abgab. Sie wusste, dass sie ihm entfliehen konnte, wenn sie wollte. Sie brauchte nur aufzustehen und die Wohnung zu verlassen.
    Aber würde sie dann nicht etwas Wichtiges versäumen?
    „Was … soll ich tun?“, fragte sie. Es war ihr selbst nicht klar, ob sie ihre Frage an die beiden Studentinnen richtete, die sie unbedingt hatten hier haben wollen, oder an die Katze selbst. Sie erhielt keine Antwort, und kurze Zeit später begann die Frage ihre Bedeutung zu verlieren. Isabel trat in Kontakt zu dem Tier. Die Verbindung zwischen ihnen hatte von dem Moment an bestanden, als sie niederkniete. Nun wurde sie so stark, dass sie sogar zu sehen war, eine dünne Linie aus farblosem, etwas unstetem Licht, ähnlich den zitternden Streifen, die die Scheinwerfer vorüberfahrender Autos auf lange belichteten Nachtfotos hinterließen. Die Linie entsprang einem Punkt zwischen den Augen der Katze, und das andere Ende zitterte über Isabels Körper hinweg, oszillierte zwischen ihrer Brust und ihrer Stirn, wanderte dann wieder zu ihrem Bauch hinab und erzeugte in ihrem Magen ein kribbelndes, zappelndes Gefühl, als hätte sie etwas Lebendiges verschluckt.
    Als nächstes kamen Worte hinzu, menschliche Worte. Sie schienen durch die Verbindung hindurch zu fließen, hin und her. Zuerst erschrak sie darüber, doch dann begriff sie, dass das nicht bedeutete, dass die Katze sprechen konnte. Die Energie, die von dem Tier ausging, brachte einfach irgendetwas in ihr zum Schwingen. Was dabei entstand, waren eben Worte, weil Isabels Verstand mit Worten gefüllt war und damit arbeitete.
    Wie ist dein Name? , hatte die Studentin gedacht, um einen Ansatzpunkt für den Gedankenaustausch zu haben.
    Isabel , kam die überraschende Antwort von der Katze.
    Das ist mein Name.
    Wir beide haben nur einen.
    Was bist du?
    Eine Katze, wie du.
    Ich bin ein Mensch.
    Ich auch.
    Wie meinst du das?
    Wie meinst du das?
    Kurz bevor der Dialog ganz ins Absurde abglitt, änderte sich die Form der Kommunikation. Die menschliche Sprache verschwand aus ihrem Kopf. Jemand merzte sie aus, auf brutale Weise sogar, schüttete etwas Hässliches darüber, und die Wörter mit ihren Bedeutungen lösten sich in einem prasselnden Säurebad auf. Zusammenhanglos sprudelten Vokabeln, Begriffe an ihr vorbei, aus ihren gewohnten Verbindungen gerissen wie abgeschnittene menschliche Gliedmaßen. Wörter, die brannten, die sich rasend schnell zersetzten, die kurzen zuerst, dann die längeren.
    Verunglimpfen – Assoziativgesetz – hintanstellen. Sinnlose Cluster von drei, vier zufällig zusammengewürfelten Begriffen
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