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Falkengrund Nr. 29

Falkengrund Nr. 29

Titel: Falkengrund Nr. 29
Autoren: Martin Clauß
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klebten noch an den Wänden ihres Verstandes, erfüllten ihn als trockene, leere Hüllen.
    Isabel wurde von Panik erfasst, wie jemand, dem bei einem Erdbeben plötzlich der Boden unter den Füßen wegbröckelte. Nach kurzer Zeit war es vorüber, und ihr Geist schwebte in einer Welt ohne Namen, ohne Bezeichnungen.
    So schnell die Panik gekommen war, so schnell kehrte die Ruhe zurück. Es war eine tiefere, bessere Ruhe als zuvor.
    Die Welt war noch da, die Wohnung mit ihren schmucklosen Wänden hatte Bestand, Isabels Herz schlug noch, und die Gesetze der Schwerkraft galten weiter. Sie saß, wo sie gesessen hatte, hatte noch alle Erinnerungen an das vorher Geschehene. Die beiden Studentinnen waren bei ihr, die Katze saß noch immer dominierend und unbeweglich vor ihr.
    Nur hatte das alles keine Namen. Nicht nur die Menschen hatten ihre verloren, auch die Gegenstände trugen keine Bezeichnung mehr. Sie hätte nicht sagen können, wie das farbige Papier an der Wand hieß – den Begriff „Tapete“ gab es in ihrem Kopf so wenig wie die Wörter „Papier“ oder „Wand“.
    Das hatte zur Folge, dass sie jetzt anders dachte . Ihr Denken schien viel direkter mit ihren Sinnen verbunden zu sein. Wenn sie etwas sah, hörte oder fühlte, gingen diese Eindrücke keinen Umweg mehr über die Sprache. Vielleicht empfand sie jetzt mehr wie ein Tier, doch auch diese Feststellung konnte sie nicht treffen, denn in ihrem Kopf gab es nichts mehr, was „Tier“ hieß.
    Die Welt war dieselbe, doch Isabel hatte sich verändert. Jetzt hätte sie verstehen können, warum die Katze behauptet hatte, ihr eigener Name sei Isabel. Alles war Isabel, weil nichts Isabel war. Doch zu solchen Gedanken war sie nicht mehr fähig. Gedanken waren jetzt nichts, was einen Anfang und ein Ende hatte, eine Richtung, einen Zweck und ein Ziel. Gedanken waren lediglich vertiefte Wahrnehmungen, bleibende Eindrücke. Es war ein bisschen so, als hätte man einer mathematischen Gleichung die Operatoren weggenommen. Von 1 + 2 = 3 blieben nur noch die Zahlen übrig. Eins. Zwei. Drei. Wunderschöne, einzelne Kunstwerke der Existenz, völlig unabhängig voneinander, und nichts vermochte sie in einen Zusammenhang zu bringen.
    Die Dinge begannen zu leben. Die flache Realität erhielt eine neue Dimension. Seit Isabel aufgehört hatte, Dinge zu benennen, sah sie tiefer in sie hinein. Und eine faszinierende, magische Welt umfing sie.
    Das Muster in dem Läufer, der den Flur zierte, war aufregend wie eine Schatzkarte. Obwohl es nirgendwohin führte, führte es in sich selbst hinein. Den Linien mit den Augen zu folgen, weckte Lust und Erregung in ihr. Formen ließen Melodien in ihrem Kopf entstehen, Laute erzeugten Farben. Es war wie im Drogenrausch, nur perfekter, göttlicher.
    Die Art und Weise, wie sich die Perspektive änderte, wenn sie sich aufrichtete, ließ sie beinahe wahnsinnig werden vor Glück. Immer wieder führte sie die Bewegung aus. Hätte sie in diesem Zustand ein Interview geben können, hätte sie gesagt, der Sinn des Lebens sei es, zu leben und sich dabei umzusehen. Natürlich waren ihr solche Gedanken nicht möglich, doch in ihrer Seele herrschte eine Begeisterung und Befriedigung, wie sie sie nie empfunden hatte.
    Die Katze vor ihr war ein rotes Bündel aus Feuer, mit zwei eiskalten Seen dazwischen als Augen. Jetzt, wo selbst die toten Dinge lebten, verwandelten sich lebende Geschöpfe daneben zu gottgleichen Wesen. Jede Bewegung, jedes Zucken der Barthaare, jedes kaum sichtbare Aus- und Einatmen unter dem flammenden Fell gab einem das Gefühl, als würde das Universum zu einem sprechen, als würde Shiva seinen Schöpfungstanz aufführen und dabei Welten erschaffen und vernichten.
    Isabel wandte sich zu den beiden Frauen um, die sie hergeführt hatten. Das Wesen, das einst den Namen Jaqueline getragen hatte, war ein kantiges, furchtbares Etwas, von überirdischer, mörderischer Schönheit und Macht, ein Überwesen, dem zuzutrauen war, selbst die Götter mit einer List in den Tod zu führen. Dorothea hatte sich in einen wabernden Engel verwandelt, der existierte und gleichzeitig nicht existierte, der zwischen Tausenden von hauchdünn übereinandergelegten Dimensionen hin und her zitterte, alles sah und doch nirgends zu Hause war.
    In ihrer frühsten Kindheit hatte Isabel ihre Umwelt auf ähnliche Weise erfahren. Die Übereinstimmungen riefen Erinnerungen zurück. Zum ersten Mal in ihrem Leben erinnerte sie sich an Ereignisse, die lange vor ihrem dritten
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