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F (German Edition)

F (German Edition)

Titel: F (German Edition)
Autoren: Daniel Kehlmann
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standen die drei auf. Lindemann klatschte den Takt, langsam zunächst, dann schneller. Sie sprangen wie Marionetten, warfen die Glieder von sich, kreisten mit den Köpfen. Es war ganz still, niemand hustete oder räusperte sich, ein Grauen schien über die Zuschauer gekommen. Man hörte nur das Stampfen und Keuchen von der Bühne und das Knarren der Bretter.
    «Jetzt wieder hinlegen», sagte Lindemann. «Und träumen!»
    Zwei von ihnen sanken sofort um, der Mann ganz links blieb noch stehen und machte tastende Handbewegungen – aber dann knickten auch ihm die Knie ein, und er rührte sich nicht mehr. Lindemann beugte sich vor und musterte ihn aufmerksam. Dann wandte er sich zum Publikum.
    Nun wolle er ein schwieriges Experiment durchführen. Nur wenige Operateure könnten derlei, es sei die hohe Schule. «Träumt tief. Noch tiefer und tiefer als je. Träumt ein neues Leben. Seid Kinder, lernt, werdet älter, kämpft, leidet und hofft, gewinnt und verliert, liebt und verliert wieder, werdet alt, werdet schwach, werdet hinfällig, und dann sterbt, es geht so schnell, und wenn ich es sage, schlagt ihr die Augen auf, und alles ist nie geschehen.»
    Er faltete die Hände, drehte sich zum Publikum und stand einige lange Sekunden schweigend.
    Dieser Versuch, sagte er dann, gelinge nicht immer. So mancher Proband erwache und habe gar nichts durchlebt. Andere wiederum hätten ihn gebeten, ihre Erinnerung an den Traum zu tilgen, da das Erlebnis zu verstörend gewesen sei, um danach Zeit und Wirklichkeit wieder trauen zu können. Er sah auf die Uhr. Einstweilen aber, um die Wartefrist zu füllen, ein paar simple Dinge. Kinder im Saal? Er stellte sich auf die Zehenspitzen. Der da aus der fünften Reihe, das kleine Mädchen dort am Rand und dieser Junge aus Reihe drei, der genauso aussehe wie der Junge neben ihm. Herauf!
    Iwan blickte nach rechts, nach links, hinter sich. Dann zeigte er fragend auf seine Brust.
    «Ja», sagte Lindemann. «Du.»
    «Du hast doch gesagt, er holt nur Erwachsene heraus», flüsterte Iwan.
    «Na, da habe ich mich geirrt.»
    Iwan spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Sein Herz klopfte. Die anderen beiden Kinder waren schon auf dem Weg zur Bühne. Lindemann sah ihn unverwandt an.
    «Kannst ruhig sitzen bleiben», sagte Arthur. «Er hat dir nichts zu befehlen.»
    Iwan stand langsam auf. Er blickte um sich. Jeder sah ihn an, jeder im Raum, jeder Einzelne im Theater. Nein, Arthur hatte unrecht, man durfte sich nicht weigern, immerhin war es eine Hypnosevorstellung, wer hierher kam, musste mitmachen. Er hörte Arthur noch etwas sagen, aber er verstand es nicht, sein Herz klopfte zu laut, und er war auch schon auf dem Weg nach vorne. Er schob sich an den Knien der Sitzenden vorbei und ging durch den Mittelgang zur Bühne.
    Wie hell es hier oben war. Die Scheinwerfer waren unerwartet stark, die Leute im Saal nur Schemen. Die drei Erwachsenen lagen reglos, keiner von ihnen rührte sich, keiner schien zu atmen. Iwan blickte in den Saal, aber er konnte Arthur und seine Brüder nicht finden. Schon trat Lindemann vor ihn hin, ging in die Knie, schob ihn vorsichtig, als wäre er ein zerbrechliches Möbelstück, einen Schritt zurück und sah ihm ins Gesicht.
    «Wir machen das schon», sagte er leise.
    Aus der Nähe sah Lindemann älter aus. Er hatte Falten um Mund und Augen, er war nicht sorgfältig geschminkt. Hätte man sein Porträt gezeichnet, man hätte sich auf die tief in den Höhlen liegenden Augen hinter der Hornbrille konzentrieren müssen: unruhige Augen, schwer zu erkennen, offenbar stimmte es nicht, dass Hypnotiseure einem so ins Gesicht starrten, dass man in ihrem Blick versank. Außerdem roch er nach Pfefferminz.
    «Wie heißt du?», fragte er etwas lauter.
    Iwan schluckte und sagte es ihm.
    «Entspann dich, Iwan», sagte Lindemann nun schon so laut, dass das Publikum in den vorderen Reihen ihn verstehen konnte. «Falte die Hände, Iwan. Verschränk die Finger.»
    Iwan tat es und fragte sich, wie man das wohl machen sollte, sich auf einer Bühne vor so vielen Menschen zu entspannen. Lindemann konnte es nicht ernst meinen; er sagte es wohl nur, um ihn zu verwirren.
    «So ist es richtig.» Lindemann sprach jetzt zu allen drei Kindern, und zwar so laut, dass man es überall im Saal hörte. «Ganz ruhig, ganz entspannt, nur die Hände könnt ihr nicht mehr lösen, die haften aneinander, ihr könnt es nicht.»
    Aber das stimmte nicht! Iwan hätte die Hände leicht auseinanderbewegen können, da war
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