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F (German Edition)

F (German Edition)

Titel: F (German Edition)
Autoren: Daniel Kehlmann
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stets anderswo war mit den Gedanken. Er sah, dass seine Lehrer in der Schule traurige kleine Seelen waren, und natürlich wusste er von den Erscheinungen, die Eric quälten. Wann immer er in einen von Erics Träumen geriet, fand er sich an einem dunklen und stickigen Ort, an dem man nicht sein wollte. Er sah auch Martin, der zu schwach war und zu viel allein mit seiner Mutter. Iwan seufzte. Hypnose interessierte ihn nicht, er wäre gern wieder daheim gewesen, um zu zeichnen. Nur endlich besser zeichnen, das war das Einzige, was zählte, etwas anderes wollte er nicht.
    Das Licht wurde schwächer, das Murmeln erstarb. Der Vorhang öffnete sich. Lindemann stand auf der Bühne.
    Er war füllig und hatte eine Glatze, die durch ein paar über die Kahlheit seines Schädels gelegte Haare nur noch stärker ins Auge fiel, und er trug eine schwarze Hornbrille. Sein Anzug war grau, in der Brusttasche steckte ein grünes Tüchlein. Ohne Gruß, ohne Verbeugung begann er, mit leiser Stimme zu sprechen.
    Hypnose, sagte er, sei kein Schlaf, vielmehr sei sie ein Zustand nach innen gerichteter Wachheit, nicht Willenlosigkeit, sondern Selbstermächtigung. Man werde heute Erstaunliches sehen, aber niemand brauche sich Sorgen zu machen, denn bekanntlich könne kein Mensch gegen seinen Willen hypnotisiert werden, und niemand sei je durch Hypnose dazu gebracht worden, etwas zu tun, das er im Grunde seiner Seele zu tun nicht bereit sei. Er schwieg einen Moment und lächelte, als hätte er einen schwer verständlichen Witz gemacht.
    Eine schmale Treppe führte von der Bühne in den Zuschauerraum. Lindemann stieg herab, rückte an seiner Brille, sah sich um und ging durch den Mittelgang. Offensichtlich entschied er jetzt, welche Zuschauer er auf die Bühne holen würde. Iwan, Eric und Martin senkten die Köpfe.
    «Keine Sorge», sagte Arthur. «Er nimmt nur Erwachsene.»
    «Dann vielleicht dich.»
    «Bei mir funktioniert es nicht.»
    Man stehe vor großen Ereignissen, sagte Lindemann. Wer nicht mitmachen wolle, der müsse nichts befürchten, dem werde nicht zu nahe getreten, der bleibe verschont. Er erreichte die letzte Reihe, lief erstaunlich behände zurück und sprang auf die Bühne. Zu Anfang, sagte er, etwas Leichtes, ein Scherz nur, eine Kleinigkeit. Die ganze erste Reihe, bitte herauf!
    Ein Murmeln ging durch den Saal.
    Ganz recht, sagte Lindemann, die erste Reihe. Alle. Bitte schnell!
    «Was macht er, wenn jemand sich weigert?», flüsterte Martin. «Wenn jemand einfach sitzen bleibt, was dann?»
    Alle Leute in der ersten Reihe standen auf. Sie flüsterten miteinander und blickten unwillig um sich, aber sie gehorchten und stiegen auf die Bühne.
    «In einer Reihe aufstellen!», kommandierte Lindemann. «An den Händen nehmen.»
    Zögernd taten sie es.
    Man werde einander nun nicht mehr loslassen, sagte Lindemann, während er an der Reihe entlangging, man wolle nicht, deshalb tue man es nicht, und weil man nicht wolle, könne man nicht, und da man nicht könne, sei es nicht falsch, zu behaupten, man hafte aneinander. Beim Sprechen fasste er da und dort hin und berührte Hände. Ganz fest, sagte er, die Hände ganz fest, ganz fest, niemand falle heraus, keiner könne loslassen, ganz fest, unauflöslich. Wer wolle, möge es jetzt versuchen.
    Keiner ließ los. Lindemann wandte sich zum Publikum, es gab zaghaften Applaus. Iwan beugte sich vor, um die Gesichter der Leute auf der Bühne besser zu sehen. Unentschlossen sahen sie aus, geistesabwesend und wie erstarrt in einer Verkrampfung des Willens. Ein kleiner Mann presste die Kiefer aufeinander, einer Dame mit Haarknoten zitterten die Hände, als hätte sie vor, sich loszureißen, fände aber dafür sowohl den Griff ihres Nachbarn als auch den eigenen zu fest.
    Er werde bis drei zählen, sagte Lindemann, dann würden alle Hände sich lösen. «Also eins. Und zwei. Und …» Er hob langsam die Hand, sagte: «Drei!», und schnippte.
    Unentschieden, beinahe widerwillig, ließen sie los. Verlegen betrachteten sie ihre Hände.
    «Jetzt aber schnell wieder hinsetzen», sagte Lindemann. «Schnell hinunter, schnell!» Er klatschte in die Hände.
    Die Frau mit dem Haarknoten war blass und schwankte beim Gehen. Lindemann fasste sie sanft am Ellenbogen, führte sie zur Treppe und sprach leise auf sie ein. Als er sie losließ, bewegte sie sich sicherer, ging die Stufen hinab und erreichte ihren Platz.
    Das sei ein kleines Experiment gewesen, sagte Lindemann, ein Scherz für den Anfang. Nun etwas
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