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F (German Edition)

F (German Edition)

Titel: F (German Edition)
Autoren: Daniel Kehlmann
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der andere war schniefend davongetappt, ein sich rötendes Taschentuch vor dem Gesicht. Seither wurde Eric von der gesamten Klasse gefürchtet, und keiner merkte, wie viel Angst er hatte.
    Denn es kam nur auf die Entschlossenheit an, das wusste er schon. Ob es die Lehrer waren, die anderen Schüler oder auch seine Eltern, alle waren sie uneins mit sich, alle gespalten und halbherzig, was immer sie auch taten. Einen, der wirklich auf sein Ziel losging, hielt keiner auf. Das war so sicher, wie es sicher war, dass zwei mal fünf zehn ergab oder dass man umringt war von Gespenstern, deren Schemen nur manchmal im Zwielicht sichtbar wurden.
    «Ich habe mich verfahren», sagte Arthur.
    «Nicht schon wieder», sagte Eric.
    «Das ist doch ein Trick», sagte Iwan. «Weil du keine Lust hast.»
    «Natürlich habe ich keine Lust. Aber ein Trick ist es nicht.»
    Arthur fuhr an den Straßenrand und stieg aus. Warme Sommerluft strömte herein, Autos schossen vorbei, es roch nach Benzin. Draußen fragte er Leute nach dem Weg: Eine alte Frau winkte ab, ein Junge auf Rollschuhen hielt nicht einmal an, ein Mann mit großem Hut machte Handzeichen nach rechts, links, oben und unten. Eine Weile sprach Arthur mit einer jungen Frau. Sie legte den Kopf auf die Seite, Arthur lächelte, sie zeigte irgendwohin, Arthur nickte und sagte etwas, sie lachte, dann sprach sie, während er lachte, dann verabschiedeten sie sich, und sie berührte im Vorbeigehen seine Schulter. Immer noch lächelnd, stieg er ein.
    «Hat sie es dir erklärt?», fragte Iwan.
    «Sie war nicht von hier. Aber der Mann davor, der wusste es.»
    Er bog zweimal ab, dann öffnete sich vor ihnen die Einfahrt eines Parkhauses. Besorgt starrte Eric in die Dunkelheit. Er würde nie jemandem erzählen können, wie schlimm jeder Tunnel, jede Höhle und jeder abgeschlossene Ort für ihn war. Iwan wusste es vermutlich dennoch, so wie es ja auch Eric immer wieder geschah, dass er statt eigener Gedanken die seines Zwillingsbruders dachte und Wörter in ihm auftauchten, die er nicht kannte. Auch passierte es häufig, dass er sich nach dem Aufwachen an Träume von sehr fremder Färbung erinnerte – Iwans Träume waren bunter als seine, sie waren auf eigentümliche Art weiter, die Luft schien besser darin. Und dennoch konnten sie Dinge voreinander verbergen. Eric hatte nie verstanden, weshalb Iwan sich vor Hunden fürchtete, wo doch Hunde zu den wenigen wirklich harmlosen Wesen gehörten, er begriff nicht, warum Iwan lieber mit blonden Mädchen sprach als mit dunkelhaarigen, und es war ihm ein Rätsel, wieso die alten Gemälde, die ihn im Museum bloß langweilten, in seinem Bruder so komplizierte Gefühle auslösten.
    Sie stiegen aus. Leuchtröhren verbreiteten fahles Licht. Eric verschränkte die Arme und starrte auf den Boden.
    «Du glaubst nicht an Hypnose?», fragte Iwan.
    «Ich glaube, dass man Menschen alles einreden kann», sagte Arthur.
    Sie betraten die Liftkabine, die Türen schlossen sich, Eric kämpfte gegen seine Panik an. Was, wenn das Seil riss? So etwas war schon passiert, es würde wieder passieren, irgendwann und irgendwo, also warum nicht hier? Endlich hielt der Lift, die Türen öffneten sich, sie gingen auf das Theater zu. Der große Lindemann , stand auf einem Spruchband, Meister der Hypnose. Nachmittagsvorstellung . Auf einem Plakat war ein unscheinbarer Herr mit Brille zu sehen, der sich sichtlich bemühte, düster und durchdringend zu blicken. Schatten lagen auf seinem Gesicht, die Beleuchtung war theatralisch, es war ein schlechtes Foto. Lindemann , stand daneben, lehrt Sie, Ihre Träume zu fürchten .
    Ein junger Mann überprüfte gähnend ihre Eintrittskarten. Sie hatten gute Plätze, weit vorne, in der dritten Reihe. Das Parkett war fast voll, auf den Rängen saß niemand. Iwan blickte zur überladen verzierten Decke auf und fragte sich, wie man das wohl malen könnte. Geschickt hatte der Künstler das Auge getäuscht und ein Gewölbe vorgegaukelt, das nicht da war. Wie zeichnete man so etwas ab, wenn man zeigen wollte, dass da in Wirklichkeit kein zweiter Raum war, sondern bloß Vortäuschung? In den Büchern stand so etwas nicht.
    Keiner konnte einem helfen. Kein Buch, kein Lehrer. Alles Entscheidende musste man aus eigener Kraft lernen, und gelang es nicht, hatte man sein Leben verfehlt. Iwan fragte sich oft, wie Leute, die nichts Besonderes konnten, das Dasein eigentlich ertrugen. Er sah, dass seine Mutter sich ein anderes Leben wünschte und dass sein Vater
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