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Extrem

Extrem

Titel: Extrem
Autoren: Stefan Goedde
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Schwindelgefühle, die ebenfalls durch den plötzlichen Wegfall der Schwerkraft ausgelöst werden. Professor Gunga hat mir diesen Vorgang genauer erklärt:
    „Es ist im Prinzip so, dass die Sinne neu formatiert werden müssen. Die Sinne funktionieren ja, nur deren Interpretation nicht. Alle Sinnesreize, optische, akustische etc., sind im All z. B. mit Lageveränderungen des Gleichgewichtsorgans verbunden. Sie müssen neu verarbeitet werden, und das braucht seine Zeit.“
    Unser Körper erhält am laufenden Band Sinneseindrücke, die ihm durch alle möglichen Kanäle übermitteltwerden: Augen, Ohren, Geruch und Geschmack sind daran ebenso beteiligt wie die Wahrnehmung der Position des eigenen Körpers – diese Reize werden Propriozeptoren genannt – oder Sinneseindrücke, die uns zum Beispiel die Haut vermittelt. Alle diese Reize strömen jedoch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf uns ein, und sie werden von den verschiedenen Organen auf unterschiedliche Weise verarbeitet und zu einer einheitlichen Wahrnehmung synthetisiert. Zum Beispiel nehme ich mein Gegenüber als sprechende Person wahr, obwohl visuelle und akustische Eindrücke nicht genau gleichzeitig in meinem Gehirn ankommen – erst das Gehirn verbindet diese ungleichartigen Eindrücke zu einer Einheit. Dieser ständige Synthesevorgang gerät nun ins Stolpern, wenn ein bestimmter Teil der Sinnesreize sich plötzlich ganz anders verhält, als wir es gewöhnt sind. Auch dies beschreibt Professor Gunga im Detail:
    „Normalerweise haben Sie Propriozeptoren, die sagen Ihnen, ich bin auf der Erde, und der Druck wird von den Füßen weitergeleitet zum Kleinhirn, und daraus wird ein Gesamtbild geschaffen: Ich stehe jetzt. Und wenn ich mich bewege, dann wird im Gleichgewichtsorgan damit unter anderem die Führung der Augenbewegung gesteuert. Das Gleichgewichtsorgan braucht diesen Input, dass Sie da unten Ihre Füße haben. Wenn es jedoch keine Schwerkraft gibt, haben Sie keine entsprechenden Körperwahrnehmungen. Dann muss das Gehirn sagen, okay, egal, ich habe aus dem Kanal da unten jetzt keine Information, trotzdem bewege ich mich im Augenblick. Die Propriozeptoren sind also einer von vielen Inputs, die sich im All verändern. Genauso wie das Aufrichten meiner Haare, das etwas mit der Windgeschwindigkeit zu tun hat, die ich ja im Raum auch wahrnehme, und der Schall, der mit einfließt. Das sind alles Informationen, die sich im dreidimensionalen Raum verändern. Die Synthese der verschiedenen Sinnesempfindungen, die unserer einheitlichen Wahrnehmung zugrunde liegt, muss im Weltraum neu gelernt werden, weil die Gravitation fehlt.“
    Ist der Körper im Weltraum „völlig losgelöst“, hat dies schwerwiegende Folgen. Doch nicht nur die Schwerkraft fällt im All weg, sondern auch andere Umweltparameter, an die unser Körper optimal angepasst ist. Zum Beispiel die regelmäßigen Lichtveränderungen durch den Wechsel von Sonne und Mond. Obwohl der terrestrische Tag- und Nachtwechsel und die Schwankungen der Temperaturen im Raumschiff künstlich nachgestellt werden, um den Biorhythmus der Astronauten aufrechtzuerhalten, treten auf Raumfahrtmissionen Schlafstörungen auf. Es ist eben wirklich alles anders im All, woraus sich eine Kombination von Belastungen nicht nur für den Körper, sondern auch für die Psyche ergibt.
    Zur sozialen und räumlichen Beengtheit – die Astronauten sind über Wochen und Monate mit denselben Crewmitgliedern zusammen, sie können sich kaum bewegen oder gar zurückziehen – kommt eine starke Monotonie, eine Armut an Sinnesreizen: Durch den schwerelosigkeitsbedingten Wegfall der Propriozeptoren fehlen bereits 40 Prozent der Eindrücke, denen wir auf der Erde normalerweise ausgesetzt sind. Und natürlich sind die optischen und akustischen Reize, aber auch Geschmack und Geruch auf der Erde, wo wir uns in den unterschiedlichsten Umgebungen aufhalten, um einiges vielfältiger. Schließlich trägt auch die Ernährung im All zu einer gewissen Reizarmut bei, denn die Vorräte sind auf Raumfahrten allein auf die ideale Zufuhr von Nährstoffen abgestimmt. Getränke gibt es nur in pulverisierter Form, Alkohol, aber auch kohlensäurehaltige Getränke sind verboten und Speisen müssen erst hocherhitzt und dann gefriergetrocknet werden, um missionstauglich zu sein. Selbst von kleinen Abwechslungen wie zum Beispiel Keksen wird abgeraten, da Krümel in der Schwerelosigkeit nicht leicht zu beseitigen sind und ernsthafte Probleme verursachen
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