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Extraleben

Extraleben

Titel: Extraleben
Autoren: Constantin Gillies
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alles - maximal viel Eiweiß bei minimalem Fettanteil- und nehme mir oft vor, an einen Ort zu gehen, wo die Menschen von einer »Jahres-Currywurst« sprechen, weil sie nur eine im Jahr essen. Ins Fitness-Studio also. Manchmal denke ich, Nick hat es besser. „Was ist denn jetzt mit heute Abend?«, fragt er. »Zocken«, schlage ich vor. „Wenn du meinst ...« Da ist sie wieder: die große Indifferenz. Wenn Nick eine Sache hasst, dann Entscheidungen. Manchmal habe ich das Gefühl, er würde sich gerne mal entführen lassen, nur um an diesem Tag eben nichts entscheiden zu müssen. Das ist einerseits angenehm, da er so ziemlich alles ohne Widerstand mitmacht, nervt andererseits aber wahnsinnig, weil man ständig alles für ihn mitentscheiden muss. So richtig schlimm wird die Sache, wenn es mal wieder zwei neue Medienformate gibt, so wie seinerzeit bei den hochauflösenden DVDs. Das stürzt meinen Kumpel regelmäßig in eine echte Existenzkrise, denn da geht es um ein Thema, wo ich ihm die Entscheidung nicht abnehmen kann: Elektronik. Nick gehört nämlich zu diesen Dolby-Surround-Existenzen, die in unserer Altersklasse häufig anzutreffen sind: Menschen, deren gesamte Wohnungseinrichtung - man könnte sogar sagen: deren ganzes Leben - auf Elektronik ausgerichtet ist. Das war bei Nick schon zu Schulzeiten so. Er hatte als Erster in der Klasse dieses orange Donkey Kong -LCD-Spiel mit Doppelbildschirm, den ersten Amiga und später - als wohl Einziger in der Stadt - einen Laserdisc-Player. Doch anders als viele andere kaufkräftige Scheidungskinder, denen es nur darum ging, das jeweils neueste Gadget zu besitzen , wollte er sie auch verstehen . Während die meisten von uns ihren Commodore 64 nur zum Spielen benutzten, nahm Nick die Maschine ernst: Ihn interessierte nicht nur, welcher Poke einem bei Fort Apokalypse unendlich Leben verlieh, sondern er wollte wissen, wofür jede einzelne Adresse auf der Zeropage da war. Während ich gerade mal Disketten kopieren konnte, schrieb er schon mit vierzehn eigene Demos in Maschinensprache und brannte sich einen eigenen Zeichensatz auf Umschalte-ROM - selbst, wenn man den Brotkasten danach nicht mehr zuschrauben konnte. Ihn interessierte schon immer die Technik hinter den Dingen. In letzter Zeit ist ihm dieser Forscherdrang allerdings ein wenig abhanden gekommen. Er schaut lieber nur noch nach hinten. Das begann zunächst als traniger Retrofimmel, hat sich mittlerweile aber zu dieser Art von dumpfer Nostalgie ausgewachsen, wie man sie bei Fans von Oldie-Musik beobachten kann, Stichwort: »Die alten Sachen waren besser.« Ich bilde mir zumindest ein, noch ein bisschen kritische Distanz zu wahren. Wenn ich für alte Mac OS schwärme, dann nur wegen der reduzierten Ästhetik, der kompromisslosen Funktionalität. Niemals im Leben käme ich auf die Idee, mit einem solchen Betriebssystem heute ernsthaft zu arbeiten. Nick sieht das ganz anders: Bei ihm bedeutet älter immer auch besser. Letztens habe ich auf seinem Rechner sogar eine Riesensammlung von Achtzigerjahre-Pornos gefunden; Movie mit Frauen wie Celeste oder Rocky Roads, wo das Bild unten am Rand so verzerrt ist, weil der Kopf vom Videorecorder verstellt war. Ich vermute, Nick hat da heimlich ein Experiment in Sachen Retromanie laufen. Auf meine Frage, warum er sich freiwillig die ganzen Bärte und damals noch kruden Brust-OP-Narben anschaut, bemerkte er nur, das seien eben »Klassiker«. Als ich dann wissen wollte, was denn bitteschön einen Klassiker ausmacht, meinte er ungerührt: »Klassiker ist alles, was in meiner Kindheit cool war!« Eine Ausnahme gönnt sich der Retorten allerdings: sein Heimkino. Da versucht Nick nach wie vor, ganz vorne mitzuspielen. Zentrum seiner Bude ist ein gigantischer Bildschirm, gekoppelt an ein Soundsystem mit einer Gazillion von Kanälen, und ein Sofa, das perfekt im Surround-Quadrat positioniert ist. Weniger Mühe hat er sich mit dem Rest der Einrichtung gemacht. Er folge eben dem Prinzip »form follows function«, witzelt Nick immer und meint damit, dass er die Sachen vom Sperrmüll hat. So sehen sie leider auch aus: Fast an jedem Möbelstück kommen irgendwo die Spanholzsplitter raus, wirft das einmal feucht gewordene Plastikfurnier Blasen. Seine Einrichtung ist der Beweis dafür, dass Ikea-Möbel eben nicht mehr als einen Besitzer vertragen. Nicht, dass es bei mir stylischer zugeht. Dabei müssten wir eigentlich schon mitten im achso ernsten Ernst des Lebens drinstecken, wie die meisten
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