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Extraleben

Extraleben

Titel: Extraleben
Autoren: Constantin Gillies
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Fensterläden zur Südseite geschlossen. Obwohl wir gerade erst vom Frühstück aufgestanden sind, ist das Eisengitter vor dem Balkon schon zu heiß, um sich dagegen zu lehnen. Tanger, das weiß getünchte Häusermeer, liegt wie gelähmt da. Doch hier oben spürt man nichts von der Hitze, die wie Sirup unaufhaltsam die Gassen füllt. Nur ab und zu knarrt das dunkle Holzgestühl über der Decke des Ballsaals. während die Sonne immer höher in den afrikanischen Himmel steigt. Du schaust hinaus zum Hafen. Die Wasserwelle in den Haaren, das knielange weiße Kleid, der sanfte Bogen deiner Augenbrauen - alles wirkt perfekt, nichts deutet auf den Untergang hin, dem wir uns mit kleinen Schritten unaufhaltsam nähern. Nur ein paar Sommersprossen auf deinem hellen Unterarm verraten die Strapazen in der Wüste. Du flüsterst »verdammter Krieg« und blickst auf den Boden. Aus dem Lärm der Altstadtgassen tritt das Brummen eines Motors hervor. Ein Catalina-Flugboot zieht eine weite Schleife über den Osthang und schlängelt sich zwischen den Minaretten hindurch zum Hafen. Es ist Zeit, Lebewohl zu sagen. Wieeeeep. Wie ein Messer schneidet der Warnton durch den Traum. Der Deckel der Sonnenbank brummt hoch, und eiskalte Luft kriecht gnadenlos den Rücken herauf. Ich drücke meine Augenlider zusammen, um wenigstens noch zu sehen, wie das Flugboot mit der Fremden an Bord am Horizont verschwindet. Doch da ist der Traum schon vorbei, das Nachglühen einer Jugend vor dem Fernseher. Ein Stück von Wouks »Feuersturm« mit Airwolf-Pilot Jan-Michael Vincent, ein Fragment aus dem »Careless Whisper«- Video von George Michael und was weiß ich noch. Sicher kein eigener Gedanke. Zieht man den Medienteppich unter den Füßen weg, bleibt nichts zurück als der typische Geruch von angesengter Haut, Wunderbaum und das billige Parfum der Mittfünfzigerin vorne am Schalter. Und diese Leere. Dieses Gefühl des Unbedeutendseins, diese Ahnung, dass nichts Großes mehr kommt. Meine Mutter erzählt immer gerne, dass ich als kleiner Junge auf die Frage, was ich denn mal werden wolle, angeblich geantwortet habe: »in der Tagesschau sein«. Heute Morgen, wie an fast jedem Morgen, ist mir klar, dass daraus nichts wird. Ich werfe einen Blick in den Spiegel an der Kabinenwand. Zurück blickt ein junger Mann, der zwar in den letzten Jahren nicht viel geschafft hat, aber immerhin eines - nämlich diesen Anblick zu optimieren. Bis auf ein paar zarte Krähenfüße in den Augenwinkeln haben fünfunddreißig Mal Sommerbräune, fünf Jahre Rauchen, eine Lungenentzündung und zwei Beziehungen kaum Spuren hinterlassen. Eine walnussgroße Menge Gel, genau wie es auf der L'Oréal-Packung steht, hält die Haare aus der Stirn. Ich habe die Uhr fast angehalten. Das bilde ich mir jedenfalls seit unserem letzten Abitreffen ein - das fünfzehnte war es wohl. Da sind die ersten Klassenkameraden mit Kombi und Kind aufmarschiert und haben - das muss man so sagen - ausgesehen wie fünfzig: fette Plauze, Halbglatze, Augenringe wie Derrick. Nach ein paar Bieren hat mich einer tatsächlich beiseite genommen und gefragt: »Wie machst Du das?« Ich habe ihm erklärt, dass die Kunst des entspannten Aussehens darin liegt, Extremen aus dem Weg zu gehen. Die Regeln sind ganz einfach: Party feiern ja, aber nicht jeden Tag, und wenn, dann danach immer schön acht Stunden schlafen. Das Gleiche gilt für Rauchen, Drogen und Frauen - vor allem für Frauen. Seit dem Tag, als ich nach einer Abfuhr meinen Wagen besoffen vor einen Baum gesetzt habe, gehe ich diesem Stressor aus dem Weg, genau wie extremen Gefühlen im Allgemeinen. Deshalb hoffe ich auch, dass aus der Familie so bald niemand stirbt. Wäre nicht gut für mein Gleichgewicht. Nick hat während seines Zivi im Altenheim gearbeitet und musste da täglich mit ansehen, wie die Leute starben. Könnte ich nicht, würde mich zu sehr mitnehmen. Und sein Argument »das bringt dich echt weiter« halte ich für totalen Bullshit. Immer schön verdrängen, das ist mein Motto. Das erhält die geistige Gesundheit - und einen frischen Teint. Um meinen Regeln treu zu bleiben, habe ich nach dem Allnighter am Freitag erst mal lange ausgeschlafen und den Samstag vor der Glotze verbracht. Sonntag stand Kaffee bei meinen Eltern auf dem Plan, was immer sehr entspannt verläuft, seit meine Schwester ihre zwei Kinder mitbringt. Die Kleinen saugen 100 Prozent der Aufmerksamkeit aller Beteiligten auf, sodass ich mich in Ruhe in mein altes Zimmer zurückziehen
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