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Extraleben

Extraleben

Titel: Extraleben
Autoren: Constantin Gillies
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John aber auch einfach nur gemerkt, dass ich Drama so gerne mag wie er, und sich deshalb die Abseil-Story ausgedacht. Überhaupt erscheint mir die Begegnung am Rand der Arktis langsam ziemlich surreal. Ist das wirklich alles passiert? In den drei Wochen, die vergangen sind, seit mich Herr Andersson wieder am Airport in Kangerlussuaq abgesetzt hat, sind die Geheimnisse von Black Ridge II unter einer immer dicker werdenden Schicht aus Alltag verschwunden, wie ein Traum kurz vor dem Aufwachen, der nach der ersten Tasse Kaffee und ein paar U-Bahn-Stationen langsam verblasst und vor der Mittagspause schon aus dem Gedächtnis verschwunden ist. Egal, was wären die Alternativen? Da die Datacorp vorab kein Honorar überwiesen hat, muss ich mich wohl oder übel weiter jeden Tag der brutalstmöglichen Realität stellen - der Arbeit in der Redaktion. Etwas Gutes hat unser Urlaub zumindest gehabt: Währenddessen hat sich der Ratgeber-Reigen weitergedreht, und der Saure-Gurken-Klassiker »So erhalten Sie sich die Urlaubsentspannung« ist so an mir vorübergezogen, samt dem unvermeidlichen Hinweis »Räumen Sie Ihren Schreibtisch vorher auf!«. Da wir selbst den Tipp natürlich nicht befolgt hatten, habe ich zwanzig Minuten gebraucht, um unter Nicks Stapeln den Themenplan zu finden, den die leitende Redakteurin einmal pro Monat reinreicht. Als ich ihn schließlich in der Hand hielt, wünschte ich mir, ihn nicht gefunden zu haben: Die nächsten Wochen verheißen nichts Gutes; schon auf den ersten Blick stachen reichlich »So«, »Wie« und »Sie« ins Auge: »So überwinden Sie den inneren Schweinehund«, »Wie Sie die ersten hundert Tage überstehen«, und das Allerschlimmste: »Liebe im Büro - so gehen Sie damit um«, Nach dem Ende der Lektüre hatte man den Eindruck, der Leser würde ohne die helfende Hand der Redaktion auf offener Straße einfach stehen bleiben und sich spontan entleeren. Nachricht an mich selbst: In der nächsten Konferenz dringend das Thema »So atmen Sie« vorschlagen. Zweite Nachricht an mich selbst: Aufhören, Nachricht an mich selbst zu sagen, weil total peinlich und Ferris-Büller-artig. Oder war das Parker Lewis, der »Coole von der Schule«, den auf unserer Schule zumindest keiner cool gefunden hätte? Für heute ist es genug mit dem Lernen. Jetzt was essen oder - genau, das ist es - spazieren gehen ! Habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht. Nicht Richtung Biergarten marschieren, nicht noch schnell in den Supermarkt hetzen oder eine Pizza holen - nein, ich werde einfach nur einmal um den Block laufen, flanieren, ohne Sinn und Ziel. Also streife ich mir ein neues lachsfarbenes Polohemd über und gehe runter. Jemand hat - böse, böse - die Haustür offen gelassen, sodass die Abendsonne hereinscheint und den Teppichboden im Flur ausbleicht. Nick nennt meine Wohnung wegen der bordeauxroten Auslegeware im Treppenhaus immer »das Dorint«. Ich finde, damit tut er dem Haus Unrecht, schließlich hat der Apartmentblock bis auf den Teppich nicht viel, was ihm Klasse verleihen könnte. Außerdem dämpft die Auslegeware den Kinderlärm. Ein Meter hinter der Haustür überfällt mich ein ganz neues Lebensgefühl. Gerade, als ich an den Hüpfkästchen vorbeihuschen will, lacht mich eines der Mädchen an, was sonst nie passiert, da Kinder wie Hunde sind und meine Angst riechen können. Heute jedoch strahle ich anscheinend nicht die üblichen Sonderling- Vibrationen aus, die sonst immer drei menschenfreie Meter um mich herum garantieren. Ich fühle mich wie ein Sonnyboy, lächele zurück und bin kurz davor, etwas Belangloses zu sagen wie: »Na, darf ich mitmachen?« Nick würde mich nicht wiedererkennen. Kein Zweifel: Etwas Besonderes liegt heute Abend in der Luft, irgendein Stoff, der die Menschen dazu veranlasst, sich wie Statisten in einem Musikvideo aufzuführen. Plötzlich spüre ich den Drang, die Sonnenbrille herunterzuziehen und über den Rand hinweg jemandem zuzuzwinkern, eine Bewegung, die in meinem Kopf - warum auch immer - untrennbar mit den Achtzigern verbunden ist. Oder ich möchte schnell Auto fahren und dabei mit der Hand im Fahrtwind surfen. Und weiß Gott: Vielleicht würde ich sogar ein Sakko an einem Finger über meine Schulter baumeln lassen. Den anderen Leuten scheint es ähnlich zu gehen, denn schon kurz hinter den Hüpfmädchen rauscht ein Mann auf einem rostigen Klapprad die Straße runter. Er ist ungefähr vierzig, trägt eine abgeschnittene Jeans, und quer  über seine Halbglatze
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