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Export A

Export A

Titel: Export A
Autoren: Lisa Kränzler
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Schatten, wo es sicher ist.
    »Ich ⁠… ich will mich nicht streiten. Ich mache mir Sorgen, verstehst du das nicht? Ich sehe doch, dass du unglücklich bist ⁠… Mama ruft jeden Tag bei mir an und fragt nach dir. Ich will sie nicht an­lügen, aber ⁠… Was soll ich ihr denn sagen? Sag du’s mir ⁠… Was, um Himmelswillen, soll ich sagen?«
    Ich zucke mit den Schultern.
    »Hör zu, ich werde nicht zusehen, wie du hier zugrunde gehst! Ich werde nicht zulassen, dass du dich zu Tode hungerst und –«
    »Ich hungere mich nicht zu Tode!«
    »Das fällt dir schon gar nicht mehr auf, was? Wach auf, Lisa! Du bist nur noch ein Schatten deiner selbst! Wann hab ich dich das letzte Mal lachen gesehen?«
    »Frag dich mal warum! In der Kirche gab’s bestimmt nicht viel zu lachen.«
    »Da gehst du doch sowieso nicht mehr hin! Was machst du überhaupt den ganzen Tag? Warst du heute in der Schule? Nein, nein, schon gut, sag nichts! Ich will es gar nicht wissen ⁠…«
    »War’s das jetzt?«
    »Nein, das war’s noch nicht! Nicht mal in Ansätzen! Ich ⁠… ich werde Mama anrufen. Sie sollen den Rückflug für dich buchen.«
    Ich erinnere mich an mein letztes Telefonat mit Tyler.
    Ein brüchiges »You should leave the country«, dicht gefolgt vom Klickgeräusch des Hörers und monotonem Tuten. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.
    »Ich kann das einfach nicht länger verantworten!«
    Ihre Stimme überschlägt sich, erste Tränen quellen aus ihren hellen Augen.
    »Du bist doch meine kleine ⁠… meine kleine Schwester ⁠… du ⁠… du brauchst Hilfe.«
    »Ich komm schon zurecht.«
    »Nein, verdammt nochmal, du kommst eben NICHT zurecht! Ach was ⁠… Es hat keinen Zweck mit dir zu reden. Ich hab mein Möglichstes getan! Sollen sich Mama und Papa mit dir rumschlagen.«
    Ich mache kehrt und beende das Gespräch, indem ich mich neben Humphrey an den Küchentisch setze. Die Stimmung in der Küche scheint ausgezeichnet zu sein. Während ich mich noch über die strahlenden Gesichter wundere, wendet sich Humphrey augenzwinkernd an mich. Ob ich die »frohe Botschaft« schon erhalten habe, will er wissen. Verwirrt schüttle ich den Kopf. Das muss ein Missverständnis sein ⁠… Doch ehe ich mich zum Nachfragen durchringen kann, tritt meine Schwester naseschnäuzend aus dem dunklen Gang. Stolz und trotzig feuert sie ein schnelles »I’m pregnant«, in mein fassungsloses Gesicht.
    »Oh ⁠…« Mehr fällt mir dazu nicht ein.
    Sie sei schon im vierten Monat, erklärt sie. Ich bin natürlich die letzte, die davon erfährt. Klar, schließlich bin ich der größte Risikofaktor dieser Schwangerschaft, der Stressverursacher Nummer Eins. Wahrscheinlich will sie mich deshalb zurückschicken.
    »You should leave the country ⁠…«
    Tyler hat recht.
    Was, wenn doch noch ein Zeuge auftaucht? Wenn sie Spuren finden? Wir waren doch beide vollkommen in Panik ⁠… Bestimmt haben wir einen Fehler gemacht, etwas übersehen.
    Auf Tyler ist doch kein Verlass ⁠… Was, wenn er beim Saufen weinerlich wird, in Beichtlaune gerät und sich jemandem anvertraut? Wenn sie ihn schnappen, wenn jemand seinen Truck gesehen hat, wenn –
    Wird er wirklich dichthalten? Andererseits arbeitet er schließlich im Knast und weiß, was es bedeutet, seine Freiheit zu verlieren. Die Freiheit UND den Alkohol. Vielleicht hält er aber gerade deshalb den Jugendknast für das kleinere Übel und liefert mich aus ⁠… »You should leave the country«. Warum? Um mich vor all dem zu bewahren, auch vor Tyler selbst? Er kennt seine Schwächen. Vielleicht wollte er mich warnen, vielleicht –
    Überflüssig, alles überflüssig! Die Entscheidung liegt nicht in meiner Hand. Schwester, Schwager und Eltern werden sie mir abnehmen.
    Kim zerrt an meinem Ärmel. Sie ist ganz aus dem Häuschen, hingerissen von der Schwellung unter dem Pullover meiner Schwester. Sie fordert mich auf, es ihr gleichzutun und den Bauch zu betasten. Erschrocken entreiße ich ihr meine Rechte. Nicht mit dieser Hand. Auf keinen Fall.
    »Jetzt hab dich nicht so«, brummt mein Schwager und nickt munter zum Bauch.
    Zitternd bewege ich meine bleiche Linke auf den kleinen Hügel zu.
    Verbrechen trifft auf Reinheit. Vorsichtig betaste ich die Oberfläche eines Lebens, das frei von Sünde, Verantwortung und Schuld ist. Für wenige Augenblicke streifen meine Finger das Werden. Verlegen ziehe ich den Arm zurück, setze mich auf meine Hände und hoffe, nichts beschmutzt zu haben.
    Zum Abschied
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