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Export A

Export A

Titel: Export A
Autoren: Lisa Kränzler
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führen wir die altbekannte Choreografie auf. Schwester und Schwager schütteln die Köpfe, ich zucke die Schultern. Damit ist alles gesagt.
    Der Gedanke daran, dass die kleine, unschuldige Larve im Bauch meiner Schwester mein Komplize und Fluchthelfer ist, gefällt mir.
    Eine ungeborene Form von Mitgefühl ist mir am erträglichsten.

44.
    Es folgen Telefonate.
    Die Stimme meiner Mutter entwaffnet mich. Ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll, also weine ich. Versuche zu schweigen, anstatt zu lügen. Streite nicht und nichts ab. Schluchze, und lasse sie ihre Schlüsse ziehen.

45.
    Mona ruft nach mir.
    Ich wälze mich aus dem Bett, stütze mich auf die Kommode, warte, bis das Schwarz verschwindet, und taumle mit schmerzendem, wundgeträumten Kopf in die Küche, um wieder einmal in aller Herrgottsfrühe den Telefonhörer entgegenzunehmen, durch den mir meine Eltern ihre Zukunftspläne für mich unterbreiten.
    Zunächst begrüße ich diese gut gemeinten Pläne weinend, später schweige ich stur. Ihre Erwartungen und Vorstellungen erscheinen mir bedeutungsloser denn je. Ich hänge am Hörer und lausche einer grotesken Zukunftsoper für zwei Stimmen. Hämisch analysiere ich die Partitur: endlose Wiederholungen des immer gleichen Themas, durchsetzt von einigen wenigen, phantasielosen Variationen.
    »Abitur ist wichtig ⁠… sehr wichtig ⁠… nach den Sommerferien direkt in die 12. Klasse einsteigen ⁠… bloß keine Zeit verlieren ⁠… Abitur ist wichtig ⁠… sehr wichtig.«
    Wie schön sie sich das zurechtgelegt haben. Einfach, sauber, glatt. Wir fliegen sie einfach zurück in die Normalität, unsere Tochter! Deutschland weiß schließlich nichts vom hohen Norden. Lasst uns die unerfreulichen Vorkommnisse gemeinsam (als Familie!) totschweigen. Unsere Tochter war im Ausland, jaha, sie spricht jetzt fließend Englisch ⁠… Nicht billig, so ein Aufenthalt, aber wir wollten es ihr ermöglichen ⁠… Was für ein Privileg ⁠… Wichtig, so eine Erfahrung ⁠… und das in jungen Jahren ⁠… das erweitert den Horizont!
    Manchmal lege ich das Telefon weg und beiße in die Sofakissen, wie früher.
    Damals hatte ich dieses Kissen. Ein kleines, rosafarbenes Ding mit einer Stickerei. Schnörkelige Schreibschriftbuchstaben auf ­Pastell. Von pedantischer Hand aufs Säuberlichste, Stich an Stich, eingenäht, prangte dort mein Name.
    Ein Name, der mit der Zeit, nach Tausend Bissen, unleserlich geworden ist, den ich gerissen habe, wie ein Tier seine Beute.
    Übrig blieb eine rosa Glatze, aus der hier und da kümmerliche Fäden sprossen ⁠…
    Aber zurück zum Gespräch.
    Mir wird mitgeteilt, dass das Yukoner Schuljahr zwar offiziell erst am 24. Juni endet, der Rektor eine frühere Abreise allerdings für unproblematisch hält. Die letzten Schulwochen seien ausschließlich für die Final Exams reserviert, und da ich keinen kanadischen Schulabschluss anstrebe, für mich ohnehin nicht weiter wichtig.
    Der zweistimmige Chor am anderen Ende der Leitung jubelt.
    Wie herrlich unproblematisch sich doch alles gestaltet! Siehst du, Schatz, alles gar kein Problem ⁠…
    Ich greife nach dem Sofakissen.

46.
    Das Chaos, das in dieser Weite wütet, die Ausschweifungen von Natur und Mensch, das Taxiertwerden von fremden Sternen, die Ohnmacht gegenüber Gewalten und Gewalttätigkeiten – in Whitehorse sind sie zu Hause, regieren diesen Breitengrad, treiben Gold- und Sinnsucher in den Wahnsinn. All die Macht, die man gerne einem Gott, einem gütigen, berechenbaren Alten mit weißem Bart, überließe, haben sie an sich gerissen.
    Ich kann hier nicht länger bleiben. Die Träume auf diesem blutdurstigen Boden, die Luft, die nach Erinnerungen riecht – sie drohen, mir den Mund aufzusprengen.
    Whitehorse hält meinen Kopf fest in der Zange und zögert den Moment, in dem es mich wie eine Walnuss aufknacken und die Geheimnisse meines Hirns offenlegen wird, genießerisch hinaus.
    Ich liege im Knackermaul und erwarte den Biss. Mein Dichthalten ist reine Glückssache. Träume und Tagesform treiben mich täglich an den Rand der Beichte.
    Die Polizei ermittelt noch immer.
    Wie viel Zeit bleibt mir noch?

47.
    Ich reiße den Umschlag auf:
    YUKON TRAVEL AGENCY 212 MAIN STREET
WHITEHORSE YUKON Y1A 2B1
    DATE: 28 MAY 2001 INVOICE: ITIN50085
COUNSELLOR: JACKIE
LOCATOR: WRW7B8
    PASSENGER : KERZ/ELISABETH MS
    FROM
    LOCATION WHITEHORSE
    TO
    LOCATION-MUNICH

    TOUR
    CHECK-IN: 06 JUN 01
    CARRIER FLT/CL
    DATE DEP : CM744 05JUN WHITEHORSE …. 2:05P
DATE ARR
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