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Evolution

Evolution

Titel: Evolution
Autoren: authors_sort
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Doch dann hatten die EMP-Bomben, die auf dem
Höhepunkt des von vielen Parteien geführten Krieges in
großer Höhe gezündet worden waren, die
Ionosphäre zerstört. Und als die letzten Satelliten vom
Himmel geholt worden waren, hatte das auch das Ende fürs
Fernsehen und sogar für den Sprechfunk bedeutet. Joan hatte den
Funk noch abgehört, solang die Geräte und die
Stromversorgung funktionierten. Doch es war schon Jahre her, seit sie
zuletzt etwas gehört hatte.
    Es gab also nicht einmal mehr Funk. Keine Kondensstreifen am
Himmel, keine Schiffe am Horizont. Es gab nach menschlichem Ermessen
keine Außenwelt mehr.
    Sie gewöhnten sich an die Isolation. Man musste sich immer
daran erinnern, wenn etwas verschwand, dann war es auch für
immer. Doch die Vorräte, die die verschwundenen Menschen
zurückgelassen hatten, die Werkzeuge und Kleidung, die Batterien
und Taschenlampen, das Papier und sogar Nahrungskonserven würden
diese kleine Gemeinschaft aus weniger als hundert Leuten für ihr
ganzes Leben und noch länger unterstützen.
    Die Welt war vielleicht untergegangen – aber nicht hier. Noch nicht.
    Die Menschheit war natürlich nicht verschwunden. Das
Endzeit-Drama, das auf dem Planeten sich entfaltete, würde sich
noch über viele Jahre, sogar Jahrzehnte hinziehen. Wenn Joan
jedoch langfristige Betrachtungen anstellte, erkannte sie, dass es
für die erst achtzehnjährige Lucy und deren Kinder keine
Perspektive gab – nicht die geringste. Also dachte sie auch
nicht weiter darüber nach. Was hätte das auch gebracht?
    Zu Lucys Füßen krochen Krabben übers Gestein. Die
roten Körper mit himmelblauen Stielaugen kontrastierten mit der
schwarzen Oberfläche.
    »Mama?«
    »Ja, Liebes?«
    »Hast du dich schon einmal gefragt, ob wir das Richtige
für diese Kinder tun? Ich meine, was, wenn die Großeltern
dieser Meeresleguane gesagt hätten: ›Nein, ihr dürft
diesen Meeres-Glibber nicht fressen. Klettert wieder auf die
Bäume, wo ihr hingehört.‹?«
    »Du meinst, wir sollten die Kinder sich entwickeln lassen wie
die Leguane?«, fragte Joan mit geschlossenen Augen.
    »Ja, vielleicht.«
    »Damit die Nachkommen einer Handvoll der Kinder sich
anzupassen vermögen, müssen die meisten der heute Lebenden
sterben. Ich befürchte, dass die Moral von uns Menschen es nicht
zulässt, dass wir uns zurücklehnen und zuschauen. Wenn aber
der Tag kommt, wo wir ihnen nicht mehr helfen können, muss eben
Papa Darwin die Regie übernehmen.« Joan zuckte die Achseln.
»Anpassen würden sie sich, das steht fest. Aber im
Endergebnis hätten sie nicht mehr viel mit uns gemein. Um
hier zu überleben, haben die Kormorane die Fähigkeit zum
Fliegen verloren, die vielleicht schönste Gabe überhaupt.
Ich frage mich, was wir wohl verlieren würden… Aber ich bin
natürlich voreingenommen. Es ist eigentlich eine schöne
Vorstellung, dass, wie grausam auch immer der Prozess der Evolution
uns erscheint, eines Tages vielleicht etwas Neues und in irgendeiner
Hinsicht auch Besseres als wir dabei herauskommt.«
    Lucy zitterte trotz der Hitze. »Da kann man direkt Angst
bekommen.«
    Joan tippte gegen Lucys Bein. »Angst ist gut. Das beweist
nämlich, dass du deine Phantasie einsetzt. Wenn ich intensiver
darüber nachdenke, wer wir sind und wie wir hierher gekommen
sind… bekomme ich manchmal auch Angst. Selbst
jetzt.«
    Lucy nahm ihre Hand. »Mutter, eins muss ich dir sagen. Deine
Sicht des Lebens ist so gottlos.«
    Joan zog sich etwas zurück. »Aha. Ich wusste, dieser Tag
würde einmal kommen. Dann hast du also den großen Ju-Ju im
Himmel entdeckt.«
    Lucy fühlte sich in die Defensive gedrängt. »Du
hast mich doch immer ermuntert, zu lesen. Es fällt mir eben
schwer zu glauben, dass Gott nur ein anthropomorphes Konstrukt sei.
Oder dass die Welt nur eine – eine riesige Maschine sei, in der
wir nur winzige Rädchen sind.«
    »Vielleicht gibt es noch Platz für einen Gott. Doch
welche Art von Gott würde die ganze Zeit eingreifen? Und
ist die Geschichte nicht so schon schön genug?
    Sieh es doch einmal so. Denk an deine Großmütter. Du
hast viele Vorfahren in jeder Generation, aber nur eine
Großmutter mütterlicherseits. Also gibt es eine molekulare
Kette des Erbes, die von jedem von uns in die tiefste Vergangenheit
zurückreicht. Du hast zehn Millionen Großmütter,
Lucy. Zehn Millionen, seit dieser Komet die Dinosaurier
ausgelöscht und den ersten rattenartigen Primaten eine Chance
gegeben hat. Stell dir vor, sie wären alle
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