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Evil

Evil

Titel: Evil
Autoren: Jack Ketchum
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gekommen.
    Sie wird von einer Erinnerung verfolgt.
    An einem warmen Sommermorgen ist sie mit einem Leihwagen auf der regennassen Autobahn unterwegs, neben ihr sitzt ihr Freund. Sie fährt langsam und vorsichtig, weil sie genau weiß, wie rutschig der heiße Asphalt bei Regen sein kann. Da überholt sie ein VW und schiebt sich schlingernd auf ihre Spur. Die hintere Stoßstange mit dem New-Hampshire-Motto »Frei leben oder sterben« auf dem Nummernschild berührt nur leicht den Kühlergrill ihres Volvos. Fast zärtlich. Den Rest besorgt der Regen. Der Volvo kommt ins Schleudern und schießt über die Böschung. Einen Moment lang schweben sie und ihr Freund schwerelos durch die Luft, und auf einmal ist oben unten, dann wieder oben und zuletzt wieder unten. Irgendwann bricht sie sich dabei am Lenkrad die Schulter. Der Rückspiegel zerschmettert ihr das Handgelenk.
    Dann kommt das Auto zum Stillstand, und sie starrt auf das Gaspedal über sich. Sie schaut sich nach ihrem Freund um, aber er ist nicht mehr da. Verschwunden wie von Zauberhand. Sie findet den Türgriff auf der Fahrerseite und kriecht hinaus auf das nasse Gras. Als sie aufgestanden ist, späht sie durch den Regen. Es ist die Erinnerung an das, was sie dann sieht, die sie für immer verfolgen wird. Vor ihrem Auto liegt inmitten von rot bespritzten Glasscherben ein blutiger Klumpen. Er sieht aus, als wäre ihm bei lebendigem Leib die Haut abgezogen worden.
    Der blutige Klumpen ist ihr Freund.
     
    Deshalb weiß sie mehr über Schmerz. Auch wenn sie ihn verdrängt hat und nachts sogar schlafen kann.
    Sie weiß, dass Schmerz mehr ist als die alarmierende Reaktion des Körpers auf eine Verletzung.
    Schmerz kann auch von außen nach innen dringen.
    Manchmal ist Schmerz das, was man sieht. Schmerz in seiner reinsten, grausamsten Form. Schmerz, den weder Drogen noch Schlaf und selbst Schock und Koma nicht lindern können.
    Man sieht ihn und nimmt ihn in sich auf.
    Man wird zum Wirt eines langen, weißen Wurms, der nagt und frisst und in den Eingeweiden immer fetter wird, bis man eines Morgens hustend aufwacht und sich einem dieser blinde, blasse Kopf aus dem Mund windet wie eine zweite Zunge.
    Nein, das kennen meine beiden Exfrauen nicht. Obwohl Evelyn der Sache ziemlich nahe gekommen ist.
    Aber ich kenne den Schmerz.
    Da müsst ihr mir schon vertrauen.
    Ich kenne ihn schon sehr lange.
     
    Mahnend sage ich mir, dass wir damals noch Kinder waren, bloß Kinder. Verdammt, wir hatten doch gerade erst unsere Pfadfinderhüte abgelegt und waren alles andere als erwachsen. Ich weigere mich zu glauben, dass ich immer noch derselbe bin wie damals, dass ich das alles nur unter einer tiefen Schicht begraben habe. Man bekommt immer eine zweite Chance im Leben, und ich habe meine genutzt. An diesen Gedanken klammere ich mich.
    Obwohl der Wurm nach zwei schlimmen Scheidungen doch ein wenig an mir nagt.
    Dann sage ich mir wieder, dass das alles in den Fünfzigern passiert ist, einer merkwürdigen Zeit der Repression, Geheimniskrämerei und Hysterie, Joe McCarthy fällt mir ein, auch wenn er für mich damals praktisch keine Rolle gespielt hat. Ich wunderte mich nur, dass mein Vater es immer so eilig hatte, nach der Arbeit im Fernsehen die Anhörungen des Ausschusses für antiamerikanische Umtriebe mitzubekommen. Ich erinnere mich an den Kalten Krieg. An die Luftschutzübungen im Schulkeller und an die Filme über Atomtests, in denen Schaufensterpuppen in kulissenartigen Wohnzimmern verbrannten und zerfielen. An Playboy- und Man's Action-Hefte, die in Wachspapier eingeschlagen unten am Bach versteckt waren. Nach einiger Zeit waren sie so verschimmelt, dass man sie nicht mehr anfassen wollte. Ich erinnere mich daran, wie Elvis in der Grace Lutheran Church von Reverend Deitz attackiert wurde, und an die Rock-'n'-Roll-Krawalle in der Alan Freed Show im Paramount. Da war ich zehn.
    Heute denke ich mir, dass sich damals etwas zusammenbraute. Amerika war wie eine Eiterbeule kurz vor dem Platzen. Und diese Dinge passierten überall, nicht nur in Ruths Haus. Überall.
    Manchmal wird es durch diesen Gedanken ein wenig erträglicher. Was wir getan haben.
     
    Ich bin jetzt einundvierzig. 1946 geboren, auf den Tag genau sieben Monate, nachdem wir die Atombombe auf Hiroshima geworfen haben.
    Matisse hatte gerade seinen Achtzigsten gefeiert.
    Ich arbeite an der Wall Street und verdiene hundertfünfzigtausend im Jahr. Zwei Ehen, keine Kinder. Ein Haus in Rye und eine Wohnung in der Stadt, von der
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