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Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central
Autoren: William T. Vollmann
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geschenkt, gibt aber keine Jahreszahl an. Außerdem behaup
tet die Chentowa, Elena habe zwar zu einigen Verwandten Schostakowitschs Kontakt gehalten, insbesondere zu seiner Schwester Marija, Schostakowitsch selbst sei sie aber nur noch ein einziges Mal begegnet. Trotzdem hat sie seine Briefe bis an ihr Ende aufbewahrt, wofür sie alle möglichen Gründe gehabt haben konnte, aber warum nicht vermuten, dass es eben doch nicht ganz vorbei war?
    Dass Schostakowitsch nie über Elena hinwegkam, wie in diesem Buch ausgemalt, ist unwahrscheinlich. Gleichfalls gibt es keinen Grund zu der Annahme, Elenas Ehe mit Karmen sei gescheitert, weil sie noch immer in Schostakowitsch verliebt gewesen sei. Außerdem war Elena blond und nicht dunkelhaarig, und die Behauptung, sie sei eine bisexuelle Zigarettenraucherin gewesen, entbehrt jeder Grundlage. Schostakowitschs Ansichten über Frauen waren eher konservativ (er hatte zum Beispiel nicht viel für Komponistinnen übrig, ein Streitpunkt zwischen ihm und Galina Ustwolskaja), also kann ich nicht davon ausgehen, dass er eine bisexuelle Geliebte toleriert hätte.
    Wenn ich über Schostakowitsch nachdenke und seine Musik höre, stelle ich mir einen Menschen vor, der sich vor Angst und Reue verzehrt, einen Menschen, der (wie Kurt Gerstein) das Wenige tat, was er konnte, um das Gute zu unterstützen – in seinem Fall die künstlerische Freiheit und die Milderung des Leids anderer Menschen. Die Zeit hat ihn gebeugt, und gewiss fiel es ihm zunehmend schwer, sich zu verweigern – ein Charakterzug, der ihm in den Jahren des Stalinismus das Leben gerettet haben könnte. Obwohl er am Ende in die Partei eintrat, bleibt er einer meiner großen Helden – ein tragischer Held natürlich. Richard Taruskin findet es in Defining Russia Musically (S. 537) »ach so wohltuend und bequem, ihn so darzustellen, wie wir an seiner Stelle gerne uns hätten handeln sehen« – mit anderen Worten, als Angehörigen eines antisowjetischen Widerstandes aus dem Märchenbuch, was ihm sofort das gleiche Ende eingetragen hätte wie Wlassow.
    Seine Ehe mit Nina Warsar verlief auf mehr als eine Weise unglücklich, und ich wollte ihm wenigstens im Roman eine große Liebe gönnen – die er sehr wohl auch mit seiner letzten Frau, Irina, erlebt haben könnte. Dafür, dass seine Leidenschaft für Elena sein Leben in Europe Central bis zum Schluss bestimmt, einschließlich der Jahre mit Irina, bitte ich sie um Vergebung, wie auch seine Kinder, für alle Verfälschungen, die für die Zwecke dieses Buches erforderlich waren.
    Roman Karmen war kein großer Künstler, aber ein tapferer, abenteuerlustiger Mensch, der sich nur allzu leicht als stalinistischer Propagandist abtun ließe. Man tut ihm und Käthe Kollwitz kein Unrecht, wenn man sie »Mitläufer-Propagandisten« nennt, obwohl Letztere meiner Ansicht nach dem Ersteren vom »ästhetischen« Standpunkt aus betrachtet weit überlegen war. Karmens
Dokumentarfilme haben dennoch größere Aufmerksamkeit verdient, als sie erhalten haben. Ich denke ihn mir, nicht grundlos, wie ich finde, als leidenschaftlichen »Soldaten mit einer Kamera«, der sein Bestes gegeben hat. Fröhlich und liebenswert war er vermutlich auch. Er könnte sehr wohl versucht haben, Schostakowitsch bei »Opus 110« zu helfen, obwohl ich auch hier wieder Schostakowitschs Besessenheit mit Elena aufgebauscht habe; er wird sich weniger Gedanken um Karmen gemacht haben als hier dargestellt. Ich respektiere jedenfalls das Andenken beider Männer.
    Was ist mit Elena Konstantinowskaja? Sie bleibt mir ein Rätsel. Aber ich liebe sie mit Sicherheit so sehr, wie ich jemanden lieben kann, dem ich nie begegnet bin. Ich hatte verschiedene Gründe dafür, meine Version dieses Menschen der Männer- und Frauenliebe fähig sein zu lassen. Ein Motiv war, sie so grenzenlos liebenswert zu machen wie nur möglich. Wie ich in diesem Buch geschrieben habe, »vor allem ist Europa Elena«.
    Dank
    Meinem Vater möchte ich für unsere drei gemeinsamen Tage in Berlin und Dresden im Juli 2001 danken. »Der letzte Feldmarschall«, »Opus 110« und »Frau mit totem Kind« waren die Hauptnutznießer. Es war wunderschön, meine Eltern im Jahr 2003 in Berlin zu treffen, wobei ich mir noch ein paar weitere Notizen machen konnte.
    Die American Academy in Berlin war so freundlich, mich für September 2003 zum Writer-in-residence zu ernennen, ein höchst zufälliger, geradezu sinnlich stimulierender Umstand, von dem beinahe alle
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