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Esti (German Edition)

Esti (German Edition)

Titel: Esti (German Edition)
Autoren: Péter Esterházy
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Heiligtum Familie, die kleinste Zelle der Gesellschaft, ach, die Basis der Regierungsarbeit, oje. Nein, wir waren mit der Schöpfung nicht zufrieden. Na, wartet’s nur ab, warnte uns Esti, als wäre er unser Bruder, das Rindvieh.
    Ich ging schon früh, sofort nach dem Morgenkaffee an den Strand und besetzte meinen Platz auf einem bequemen Felsen, mit einer Vertiefung wie ein riesiger Sessel, ein richtiger Aussichtspunkt, eine BEOBACHTUNGSSTELLE , ich las, schaute mich um. Jeden Tag konnte ich sehen, wie die Familie herunterkam, die verstümmelte Familie, würde ich sagen, wäre dieser Ausdruck hier nicht morbid und geschmacklos, vier Kinder schoben den im Rollstuhl sitzenden Vater unter die Weide. Der kräftige Mann mit einem schönen Gesicht schien nie mit seinen Kindern zu sprechen. Angekommen, schob eines der Kinder einen Stein unter das Rad des Rollstuhls, der Mann zog das Hemd aus und vergrub sich in sein Buch, den ganzen Vormittag las er eisern, noch eiserner als ich.
    Nun, das ist wirklich das Paradies auf Erden!, kreischten wir. Logisch, für Esti ist das Paradies eine Bibliothek, jauchzte einer von uns. Aber nicht irgendeine Bibliothek, trumpften wir auf, in ihr stehen ausschließlich seine Bücher, und er liest und liest … Holdseligkeit ist die Ewigkeit, was, Cornelius maior?! – Wir genossen das Zusammensein, wir waren jung, vor uns lag das Leben, und davon waren wir berauscht und erregt. Wir produzierten uns: voreinander. Jeder war eines jeden Spiegel. Wir liebten es, wenn wir stolz sein konnten – aufeinander. Die Realität (hingegen) macht immer hilflos.
    Esti dämpfte seine Stimme zu einem Flüstern, mit diesem läppischen Theatereinfall erzwang er unsere Aufmerksamkeit. Selbst das älteste Kind kann nicht mehr als zehn gewesen sein. An besagtem Nachmittag sah ich gerade, wie sie etwas spielten, im Spiel waren, sie bewegten sich anders, als sie aus dem Wasser kamen, irgendwie unheildrohend, und in der Tat, als sie die Weide erreichten, ließen sie sich auf alle viere hinab: vier wilde Löwenjunge schlichen um ihren unansprechbar scheinenden Vater herum. Ihr dünnes, katzenhaftes, aber furchterregend gedachtes Knurren war bis zu dem Felsen herüber zu hören.
    Der Unglückliche, er kämpft hier mit den vier Kindern, seine Frau hat sich mit einem neapolitanischen Falschspieler aus dem Staub gemacht – Esti!, stop!, wir fielen ihm ins Wort, auch die Dichtung hat Grenzen!, hat sie nicht, blaffte er zurück und fuhr fort –, er hat genug von dem Bücherwurm, der nun heroisch seine Kinder erzieht, er kämpft tapfer, doch er kann sich nur hinter den Büchern verschanzen, er ist außerstande, eine Nähe herzustellen, auch wenn sie sein Fleisch und Blut sind. All das las ich zweifelsfrei aus der steifen Haltung, der Schweigsamkeit des Mannes, nun, nicht einmal eine Erzieherin wagt er einzustellen, die Kinder waren auf Selbstversorgung dressiert, man sah, dass jedes seine Aufgabe kannte, das Sandwichverantwortliche, das Kleiderverantwortliche und so weiter, doch ich quäle euch nicht länger, meine verrufenen Freunde.
    Der arme, strapazierte Vater, den ich mit meinem seelischen und deshalb wahren Auge sah, tat, was er zu dieser Zeit des Tages noch nie getan hatte, er unterbrach seine Lektüre, doch bevor er das Buch hätte weglegen können, schlug hinter dem Buch ein solches Löwengebrüll hervor, dass selbst das Herz meines Felsens einmal heftig klopfte. Er schleuderte das Buch in den Sand, die kleinen Löwen wichen misstrauisch zurück wie Wellen vor dem ins Wasser geworfenen Stein, mit dem Rollstuhl schaukelnd, stürzte er sich regelrecht um, stellte sich, so er es vermochte, auf alle viere, seine lahmen Beine wie Fetzen.
    Die kleinen leichtsinnigen, noch grünen Löwen waren sofort um ihn herum, drückten die Köpfe gegen ihn, schnurrten, beschnupperten einander, die nackten Hintern der Kinder leuchteten von weitem, manchmal wackelten sie damit wie Tänzerinnen, und die majestätische Tatze des Löwen versetzte ihnen einen Klaps, sie bissen auch einander, knurrten. Knabberten. Die vollkommene Unschuld einerseits, Esti hob die eine Hand, und wie ein Priester bei der Messe hob er symmetrisch dazu auch die andere, die vollkommene Sinnlichkeit andererseits. Das Glück der Liebe und des Fleisches. Dieses Glück sah man auf dem bisher ungerührten, grauen Gesicht des Vaters wie auch auf denen der kichernden Kinder. Ich konnte das Himmelreich sehen, dort, an diesem billigen, italienischen Strand, Esti
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