Eskandar: Roman (German Edition)
sagt Roxana-Khanum. Wer von uns weiß schon, was Demokratie, Fortschritt und Gleichberechtigung bedeuten? Die Sprache unserer Mullah aber verstehen wir. Schließlich kennt jedes Schulkind die Geschichte von den Leiden des Emam-Hossein.
Ich bin dabei gewesen, sagt Eskandar-Agha.
Möge Gott weiteres Leid von Ihnen fernhalten, sagt Roxana-Khanum und starrt weiter auf den Bildschirm, wo Demonstranten Bilder vom Schah und seiner Familie verbrennen und Fotos von Khomeini und ihren vermissten und toten Angehörigen mit sich führen.
Es ist Januar des Jahres 1979, und es ist kalt, sagt Nimtadj in das Mikrofon ihrer Kamera. Ich stehe mit Abertausenden meiner Landsleute auf der Straße. Die Menschen jubeln und tanzen, weil der König der Könige, der selbstgekrönte Kaiser des Iran, Mohammad-Resa-Pahlawi, den Iran verlässt.
Abends, als sie wieder alle beisammen unter dem warmen Korssi sitzen, zeigt Nimtadj die Bilder Eskandar-Agha. Sie schaltet ihre Kamera ein und bittet ihn, von der ersten Flucht des Kaisers vor 25 Jahren zu erzählen. Doch statt zu sprechen, sieht Eskandar-Agha nur in die Linse ihrer Kamera und schüttelt den Kopf.
Agha-Bozorg, Großvater, sagt die kleine Aftab. Die Kamera wartet, du musst etwas sagen, sonst wird der Film langweilig.
Wieder schüttelt Eskandar-Agha nur den Kopf und starrt vor sich hin.
Aftab schreit: Sprich!
Eskandar-Agha erschrickt zwar, sagt aber noch immer nichts.
Ich will nicht, dass du auch stirbst, sagt Aftab leise und fängt an zu schluchzen und weint und weint und hört erst damit auf, als Eskandar-Agha seine Enkelin ansieht und aufhört, den Kopf zu schütteln. Er streicht Aftab über den Kopf, sieht in die Kamera und sagt: Als Nächstes werden, wie auch bei seiner letzten Flucht, seine Farangi-Freunde folgen. Dieses Mal sind es keine Engelissi, sondern vor allem Amrikai. Sechzigtausend militärische Berater, Geheimagenten und Angestellte der Botschaft.
Eskandar-Agha sieht Nimtadj an und sagt: Du solltest hinausgehen und die Straßen filmen und die Leute fragen, bevor neue Machthaber da sind und alles unter ihre Kontrolle bringen, ihre eigenen Regeln und Gesetze machen und den Leuten verbieten zu sprechen und dir verbieten, es zu filmen.
Das werde ich, sagt Nimtadj und wischt ihrer Nichte die Tränen aus dem Gesicht. Du musst keine Angst haben, meine Kleine, tröstet sie Aftab. Unser Eskandar-Agha wird dich nicht verlassen. Nicht, solange du da bist, sagt Nimtadj und sieht den alten Eskandar-Agha eindringlich an. Er weiß, wie sehr du ihn brauchst. Und du bist die beste Assistentin, die ich je hatte, sagt Nimtadj und kneift ihrer Nichte in die Wange.
Was ist eine Assistentin?, fragt Aftab.
Frag deinen Großvater. Der wird es dir erzählen, sagt Nimtadj, packt ihre Kamera, zieht einen Schleier über und geht hinaus.
Sie filmt junge, bewaffnete Männer, die an allen wichtigen Straßen und Kreuzungen Posten bezogen haben und Passanten und Autos willkürlich und nach eigenem Gutdünken herauswinken und kontrollieren. Solange es hell ist, filmt sie Häuserfassaden und Mauern, die beklebt sind mit endlosen Wandzeitungen und Parolen politischer Gruppen und Parteien, die über Nacht wie Pilze aus dem Boden geschossen sind.
Weder Ost noch West, Islamische Republik, filmt Nimtadj und spricht gleichzeitig in das Mikrofon ihrer Kamera: Eskandar-Agha und meine Mutter haben recht. Im Iran hat niemand Erfahrung mit politischer Arbeit und Parteien. Einzig die Religiösen werden dieses Chaos überleben. Ihre Parolen sind einfach: Weder Ost – noch West – Islamische Republik, na sharqi – na qarbi – jomhouriehe eslami. Und sie versprechen kostenlosen Strom und Wasser für alle. Das versteht jeder.
Zwei Wochen nachdem sie jubelnde und feiernde Menschen gefilmt hat, die die Abreise des Schah gefeiert haben, steht Nimtadj am Meydane Schahyad, dem großen Platz kurz vor dem Flughafen. Wieder jubeln und feiern die Menschen, wie sie es bei der Abreise des Schah getan haben. Dieses Mal begrüßen sie die Heimkehr des Ayatollah-Khomeini, der nach dreizehn Jahren Exil in den Iran zurückkehrt. Anders als der Schah, der mit dem Hubschrauber zum Flughafen geflogen ist, lässt Ayatollah-Khomeini sich mit dem Auto an den Menschenmassen vorbei in die Stadt fahren.
Nachdem seine Kolonne an Nimtadj vorbeigefahren ist, beeilt sie sich, aus dem Gewühl herauszukommen, und rennt ins erstbeste Teehaus, wo sie ihre Kamera mal auf den laufenden Fernseher und mal auf die Gesichter der Männer
Weitere Kostenlose Bücher