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Eselsmilch

Eselsmilch

Titel: Eselsmilch
Autoren: J Mehler
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auf seine Schultern, seine Haare.
    Sprudel wischte sie weg und sah
auf. »Fanni«, sagte er, »du musst zur Hütte hinunterlaufen. Der Wirt soll
schnellstens den Notarzt rufen. Er wird ja wohl ein Telefon haben. Mein Handy …«
    Fanni hörte nicht mehr, weshalb
Sprudel sein Handy nicht benutzen konnte – ihr eigenes lag wie immer zu Hause.
Sie sprang bereits über die Planke und rannte den felsigen Pfad zur
Falkenstein-Schutzhütte hinunter.
    Sie hielt auf den überdachten
Eingang zu, als ihr ein silbernes Edelweiß ins Auge sprang. Es prangte auf
einer Tafel am Hauseck. »Dienststelle Bergwacht« stand darunter.
    Bergwacht?
    Bei Unfällen in den Bergen
rückt die Bergwacht an!
    Fanni schlug einen Haken ums Hütteneck
und entdeckte eine Eingangstür, die in den Anbau an der Ostseite der
Falkenstein-Schutzhütte führte. Sie drückte die Klinke hinunter, riss die
Brettertür auf und trat in einen winzigen Flur. Links erzitterten ein Schrubber
und ein Reiserbesen in der plötzlichen Zugluft, als wollten sie Fanni grüßen.
    Direkt vor sich sah Fanni eine
zweite Tür und öffnete sie.
    Zwei Bergwächter saßen am Tisch,
volle Biergläser vor sich. Der eine schnitt soeben ein Stück Geräuchertes auf,
der andere säbelte dicke Scheiben von einem Brotlaib.
    »Komm nur rein«, forderten sie
Fanni auf, die in der offenen Tür zum Stehen gekommen war. »Magst mitessen?
Warum schnaufst du denn so?«
    »Unfall«, keuchte Fanni, »in der
Telefonschneise.«
    »Was sagst du?«, fragte der
eine.
    »Unfall!«, schrie Fanni.
    Da ließen die beiden seufzend
ihre Halben, das Geselchte und das Bauernbrot im Stich, zogen sich rote Anoraks
über, auf deren Rückseite ein weißes Edelweiß leuchtete, und folgten Fanni.
    Sprudel kniete nicht mehr allein
unter dem Felsen. Ein Nationalparkranger hockte neben ihm und sprach in sein
Handy.
    Als Fanni mit Rudi und Sepp, wie
sich die Bergwächter ihr inzwischen vorgestellt hatten, herankam, erhob sich
Sprudel, ging ihnen entgegen und bat sie, hinter der Planke zu bleiben.
    »Sie hat uns hergeholt!«, rief
Sepp und deutete anklagend auf Fanni. »Wir sind die Bergrettung.«
    »Hier gibt es niemanden mehr zu
retten«, entgegnete Sprudel. »Der Ranger hat bereits die Polizei alarmiert.«
    »Tot?«, fragte Sepp.
    Sprudel nickte.
    »Auf dem Felsen herumgeturnt,
abgerutscht, Genick gebrochen«, diagnostizierte Rudi ohne den geringsten
Sichtkontakt zur Leiche.
    Sepp machte ein paar Schritte am
Geländer entlang und reckte den Hals.
    »Weißt, wer das ist?«, fragte er
Rudi.
    Der sah ihn erwartungsvoll an.
    »Die Annabel ist das«,
verkündete Sepp, »schau hin, erkennst sie nicht?«
    Rudi rückte nun seinerseits zu
der Stelle vor, von der aus man einen Blick auf das weiße Gesicht werfen
konnte, und beugte sich über die Planke.
    »Tatz und Fell von der Katz, das
ist sie!«, sagte er. »Und überall Blutspritzer.«
    Blut?
    Fanni wollte die Verunglückte
nicht noch einmal ansehen müssen und die Blutspritzer, die sie zuvor für ein
abstraktes Muster auf der Bluse gehalten hatte, schon gar nicht. Was also trieb
sie auf den Baumstumpf, von dem aus sie einen freien Blick auf die tote junge
Frau hatte?
    Misstrauen? Skepsis? Der Zwang,
sich selbst ein Bild zu machen?
    Die Kleckse auf der Bluse –
eigentlich mehr braun als rot – konnten durchaus Blutspuren sein. Und ja, sie
setzten sich in dem weißen Gesicht fort – kleiner, verwaschener, weniger
deutlich auf der milchigen Haut.
    Fanni fielen Bruchstücke aus dem
Märchen von Schneewittchen ein: »… weiß wie Milch, rot wie Blut …«
    Ja, Annabel war schön wie
Schneewittchen. Sie hätte in eine Werbebroschüre gepasst. Als Reklame für
Sonnenschutzmittel, für Hautlotion, für Tönungsshampoo. Ihr schwarzes Haar
glänzte seidig. Dort, wo ein Sonnenstrahl darauf fiel, schimmerte es dunkelrot.
    Fanni wandte sich ab.
    Als sie von dem Baumstumpf
herunterstieg, sah sie, dass sich um Rudi und Sepp ein Grüppchen Menschen
angesammelt hatte, und erst jetzt drangen die Stimmen in ihr Bewusstsein.
    »Freilich ist das die Annabel«,
rief Sepp soeben, »die Annabel Scheichenzuber ist das.«
    Sein Bayrisch machte ein
»Anerbeel« daraus.
    Fanni seufzte. Sie hatte nie
begriffen, was manch eingefleischten Bayern dazu veranlasste, seinen Kindern
derart unbayrische Vornamen zu geben. Zum einen, fand Fanni, passte nun mal
eine Anna oder Lisa, ein Toni oder Franz besser zu Scheichenzuber, Steigelmeier
oder Brezendorfer als eine Jaqueline, Nicole oder ein Pierre.
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