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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman
Autoren: Stephen King
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Juweliergeschäft unterspült. Der Rest dessen, was noch vom Gehweg übrig war, war abgesperrt, da er unterspült worden war.
    »Bill?« Es war Audras Stimme, belegt und ein wenig benommen. Sie klang, als wäre sie soeben aus einem tiefen Schlaf erwacht. »Bill, wo sind wir? Was tun wir?«
    »Hi-yo, Silver!«, schrie Bill und schoss direkt auf die Absperrung zu, die im rechten Winkel zum leeren Schaufenster des Juweliergeschäfts stand. »HI-YO SILVER, LOOOS!«
    Silver stieß mit einer Geschwindigkeit von mehr als sechzig Kilometern pro Stunde gegen die Absperrung, und sie flog in die Luft, das Mittelbrett in die eine Richtung, die A-förmigen Stützbalken in zwei andere. Audra schrie auf und klammerte sich so fest an Bill, dass er kaum noch Luft bekam. Überall auf den Straßen der Main, Canal und Kansas Street blieben Menschen stehen und starrten ihm nach.
    Silver schoss auf den unterspülten Gehweg. Bill spürte, wie seine linke Hüfte und sein linkes Knie am Juweliergeschäft entlangstreiften. Dann sank Silvers Hinterrad plötzlich etwas ein, und er begriff, dass der Gehweg nachgegeben hatte …
    … und dann trug die Geschwindigkeit des Fahrrads sie zurück auf festen Boden. Bill schwenkte Silver zur Seite, um einer umgestürzten Mülltonne auszuweichen, und schoss wieder auf die Straße hinaus. Bremsen quietschten. Bill sah den Kühler eines großen Trucks auf sich zukommen und konnte noch immer nicht aufhören zu lachen. In dem Moment, ehe der schwere Truck ihn erreichte, schoss Bill an ihm vorbei. Himmel, keine Sekunde zu früh.
    Er lachte Tränen, drückte auf Silvers Hupe, lauschte jedem heiseren Aufbrüllen der Hupe, die sich in das helle Tageslicht schmiegte.
    »Bill, du wirst uns beide umbringen!«, schrie Audra, und obschon Angst in ihrer Stimme mitschwang, lachte sie.
    Bill ging in die Kurve, und diesmal spürte er, wie auch Audra ihr Gewicht zur Seite verlagerte und sich seinen Bewegungen anpasste, ihm half, Silver im Gleichgewicht zu halten, ihm half, dass sie beide – Audra und er – gemeinsam mit Silver existierten, und für die Dauer dieser kurzen magischen Zeitspanne schienen sie drei Lebewesen zu sein.
    »Glaubst du?«, rief er zurück.
    »Ich weiß es!«, schrie sie und griff ihm zwischen die Beine, wo er eine gewaltige, fröhliche Erektion hatte. »Aber halt nicht an!«
    Dem hatte er nichts mehr hinzuzusetzen. Doch Silvers Geschwindigkeit verringerte sich bereits auf dem Up-Mile Hill, und das Maschinengewehrgeknatter der Spielkarten ließ nach, bis nur noch einzelne Schüsse zu hören waren. Bill hielt an und wandte sich zu ihr um. Sie war bleich, ihre Augen waren weit aufgerissen, verängstigt und durcheinander … aber wach, aufnahmefähig und lachend.
    »Audra«, sagte er und fiel in ihr Lachen ein. Er half ihr abzusteigen, lehnte Silver an eine Ziegelmauer, und schloss sie in die Arme. Er küsste ihre Stirn, ihre Augen, ihre Wangen, ihren Mund, ihren Hals, ihre Brüste.
    Sie umarmte ihn dabei.
    »Bill, was ist passiert? Ich erinnere mich daran, in Bangor aus dem Flugzeug gestiegen zu sein, und danach erinnere ich mich an gar nichts mehr. Ist mit dir alles in Ordnung?«
    »Ja.«
    »Und mit mir?«
    »Ja. Jetzt – ja!«
    Sie schob ihn ein Stück weit von sich fort und sah ihn an. »Bill, stotterst du noch?«
    »Nein«, sagte Bill und küsste sie. »Das Stottern ist weg.«
    »Endgültig?«
    »Ja«, sagte er, »ich glaube, diesmal ist es endgültig weg.«
    »Hast du irgend etwas von Rock and Roll gesagt?«
    »Weiß nicht. Habe ich?«
    »Ich liebe dich«, sagte sie.
    Er nickte und lächelte, und als er lächelte, sah er trotz seines kahlen Schädels sehr jung aus. »Ich liebe dich«, sagte er. »Und das ist das Einzige, was zählt.«

8
     
    Er erwacht aus diesem Traum und kann sich nicht mehr genau daran erinnern; er weiß nur, dass er geträumt hat, wieder ein Kind zu sein. Er berührt den glatten, warmen Rücken seiner Frau, die schläft und ihre eigenen Träume träumt; er denkt, dass es schön ist, ein Kind zu sein, dass es aber auch schön ist, erwachsen zu sein und über das Mysterium der Kindheit nachdenken zu können … über kindlichen Glauben und kindliches Verlangen. Eines Tages werde ich über all das schreiben, denkt er und weiß, dass es nur ein Gedanke im Morgengrauen ist, einer jener Gedanken, wie man sie nach Träumen oft hat. Aber es ist schön, eine Weile darüber nachzudenken, in der reinen Morgenstille zu denken, dass die Kindheit ihre eigenen süßen Geheimnisse birgt
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