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Es geschah in einer Regennacht

Es geschah in einer Regennacht

Titel: Es geschah in einer Regennacht
Autoren: Stefan Wolf
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Öme tastete
nach der Halsschlagader, wobei er die Verschnürung der Kapuze lockern musste.
Der Puls war zu spüren, schwächelte aber, stolperte unregelmäßig. Öme begriff,
dass er Riemer schwer verletzt hatte.
    Panisch sah er sich um. Was nun?
Riemer brauchte Hilfe. Der Notarzt musste her, sonst war Schlimmes zu
befürchten.
    Das Telefon stand auf einem
kleinen Tisch in der Diele. Neben dem etwas altmodischen Apparat lag das irre
dicke Telefonbuch.
    Öme blätterte mit zitternden
Fingern. Polizeinotruf! Notarzt! Doch dann hielt er inne.
    Konnte er dort anrufen, ohne
sich zu gefährden? Wie machten die das, wenn jemand seinen Namen verschwieg?
Wurde dann per Knopfdruck aufgezeichnet, um ein Stimmmuster zu haben von dem
Unbekannten, der bestimmt nicht zum Spaß anonym bleiben wollte? Würde man ihn
später als Anrufer identifizieren, indem man ihn mit dem aufgezeichneten
Gespräch konfrontierte?
    Er wusste es nicht. Aber er
hielt es für möglich. Und seine abenteuerliche Fantasie entwarf ein Risiko von
beträchtlichem Ausmaß. Nein! Bei der Polizei konnte er nicht anrufen. Aber
Hilfe musste her.
    Die Lösung lag auf der Hand. Er
musste jemanden dazwischenschalten, jemanden, den er für arglos, aber
verlässlich hielt.
    Er hatte ein gutes Gedächtnis
für Zahlen. Handy-Nummern waren für ihn kein Problem. Mehr als ein Dutzend war
in den grauen Zellen gespeichert. Er wählte.
    Fast augenblicklich meldete
sich das jüngste Mitglied im Verein für Kunst- und Museumsfreunde : Karl
Vierstein, auch Computer-Karl genannt.
    Öme sprach mit verstellter
Stimme, nicht mit der für ihn typischen zirpenden Helligkeit, die ihm seit
seinem Stimmbruch Komplexe verursachte, sondern nuschelig und dumpf. Es klang
unnatürlich, eben verstellt, aber das gehört schließlich zur Anonymität.
    »Ein Notfall!«, nuschelte er.
»Rufen du Polizei an. Ein Notfall.«
    Während des Wählens war ihm die
Idee gekommen, gebrochenes Deutsch vorzutäuschen, also einen Ausländer, woher
auch immer, der seine Lektionen noch nicht gelernt hat.
    »Wie? Was?« Karl war
überrascht. »Wer spricht dort?«
    »Polizei anrufen«, wiederholte
Öme. »Du anrufen. Mann verletzt. Total kaputt. Ist Einbrecher. Atmen ganz
schlecht.«
    »Was soll das? Ist das ein
Witz? Wer sind Sie? Ihren Namen! Von wo rufen Sie an?«
    »Nix Namen. Du Polizei anrufen.
Doktor auch muss kommen. Einbrecher atmen schlecht. Du machen schnell. Haus ich
wissen. Adresse.«
    »Dann sagen Sie’s.«
    »Molchowstraße.«
    »Molchowstraße. Ja, ich weiß.
Welches Haus?«
    »Draußen Nummer an Haus ist
elf.«
    »Also Molchowstraße Nummer
elf?«
    »Du machen schnell.«

    Öme legte auf. Unter seiner
nassen Mütze hatte sich kalter Schweiß angesammelt.
    Jetzt aber weg! Noch einmal
leuchtete er Riemer ins Gesicht. Unverändert. Nein, noch käsiger. Mann, halt
durch! Die kommen ja gleich.
    Öme nahm Taschenlampe und
Gummihammer und flüchtete hinaus. Dabei stolperte er über Riemers Beutel,
bückte sich und nahm auch den mit, ohne nachzudenken.
    Sein Wagen parkte am Ende der
Straße. Er zwang sich, die Strecke ruhig zu gehen und nicht zu rennen, was
sicherlich verdächtig gewesen wäre, hätte jemand zufällig aus dem Fenster
geschaut. Auch der gewaltige Rucksack fiel auf, was er sich vorher nicht
überlegt hatte. Aber an den Häusern, an denen er vorbeikam, waren die Jalousien
und Vorhänge geschlossen.
    Er legte den Rucksack in den
Kofferraum, setzte sich hinters Lenkrad und fuhr ab. Nicht gleich in Richtung
Bahndamm, wo er wohnte, sondern in einem weiten Bogen nach Süden, um der
Polizei und dem Notarzt nicht zu begegnen. Hier war ein Außenbezirk, ein
gediegenes Wohnviertel ohne Geschäfte und Läden. In der Ferne hörte er eine
Polizeisirene, aber in einer Millionenstadt gehört das allenthalben zum
nächtlichen Konzert. Es musste nicht der Streifenwagen zur Molchowstraße sein.
    Immer noch schwirrten seine
Gedanken. Er begriff nicht, wie das alles hatte geschehen können. Riemer war
zweifellos in derselben Absicht gekommen wie er. Woher wusste der Kerl, dass
Angela heute verreist war? Natürlich von ihr, woher sonst. Falls dem nicht eine
zufällige Begegnung zugrunde lag, hatte Riemer also zusätzlichen Kontakt zu
Angela.
    Öme spürte das Gift der
Eifersucht im Herzen und entschied sich, um nicht völlig auszurasten, für die
zufällige Begegnung, die sich ja durchaus zweimal ereignen konnte.
    Und der Mistkerl hatte die
gleiche Idee wie ich, dachte Öme. Verdammt! Verdammt! Jetzt sitze ich
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