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Erzaehlungen aus dem Nachlass

Erzaehlungen aus dem Nachlass

Titel: Erzaehlungen aus dem Nachlass
Autoren: Rainer Maria Rilke
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Türe, schlüpfte durch einen Spalt hinein – und im nächsten Augenblicke hörte ich, wie der Schlüssel sich im Schloss stöhnend umwälzte. Krach! Und ich stand vor der verschlossenen Türe.
    Schon verzweifelte ich trotz all meiner jugendlichen Hoffnungsfreudigkeit an meinem Unternehmen, als ein günstiger Zufall mir unerwartet zu Hilfe kam.
    Es war ein schlimmer Herbsttag. Die Luft war grau, der Gangsteig glänzte und der Wind peitschte einen dünnen Sprühregen her und hin. Herr Horn kam wie immer. Ich folgte ihm nach, wie immer. Schon war er nah seinem Hause, und ich überlegte halb trotzig, halb missmutig, dass dies das letzte Mal gewesen sein sollte, dass ich diesen aussichtslosen Spaziergang unternommen hätte.
    Da fühlte ich einen jähen Windstoß, – und im nächsten Augenblick kollerte etwas Schwarzes mit wirbelnden Ungestüm an mir vorbei. Ich blickte auf. Rath Horn stand kaum zwei Schritte vor mir – ohne Hut in arger Verzweifelung. Der Sturm hatte ihm den alten Cylinder geraubt. – Ich war schnell entschlossen hinterher auf der Jagd. Lang musste ich laufen, die ganze Allee zurück – bis endlich der Flüchtling heftig an einen Baum anrollte und so den bedeutenden Vorsprung, den er erlangt hatte – rasch einbüßte.
    Mit fliegendem Athem, hochrothen Wangen, voll Hast und Freude rannte ich zurück zu dem alten Herrn. Dieser nahm seinen Hut ganz wie wenn das alles selbstverständlich wäre in Empfang, stülpte ihn, ihn vorn und hinten drückend, auf sein graues Haar, strich mir leise mit der Hand über das Gesicht, sagte mit weicher Stimme: »Danke, mein gutes Kind!« machte kehrt und schritt den Stock an die Lippen haltend seinem Heim zu. – Ich zitterte vor Wuth und Enttäuschung. – Ich lief nachhaus und weiß noch, dass ich einen großen Teil der Nacht in mein Kissen weinte, bis mich die Ermattung übermannte. So sehr es mich auch am kommenden Nachmittage wieder hinauslockte, ich blieb standhaft und folgte dem Undankbaren nicht. – Etwa 3 Tage waren darüber gegangen. Da ging ich eines Tages ganz in Gedanken von unserer Lateinschule heim, – und als ich an einer Ecke aufblickte, wer stand – vor mir? – Rath Horn. – Ehe ich noch recht wusste, was ich tun sollte, sagte er leise und legte mir dabei die Hand auf die Schulter:
    »Ich habe mich erkundigt, – du bist ein braves Kind – komm! –«
    Ich folgte. Das Herz schlug mir laut vor Freude und Furcht.
    Auf dem Wege sprachen wir kein Wort.
    Wir betraten schweigend sein Haus.
    Mein Schritt gellte so laut auf den rothen Ziegelfliesen des Flures, dass ich zusammenzuckte. – Der Vorraum, in den wir jetzt kamen, war dunkel. Große schwere Kästen hoben sich in ungewissen Umrissen von der grauen Wand ab und warfen riesige schwarze Schatten. Umso freundlicher war das Stübchen, das wir jetzt betraten. – Blumen standen auf dem breiten Fensterbrett. Hart davor ein kleines Tischchen. Dann ringsum Schränke mit Büchern, verstaubte Stahlstiche hinter glatten Gläsern und hohe Stöße von Schriften und Zeitungen auf den blendend weißen Dielen. – Der Rath ließ mich setzen. Mit Staunen ward ich gewahr, dass in dieser Umgebung sein mürrisch ernstes Wesen verändert sei. Sein Auge ward hell und beweglich, seine Stimme rein und anheimelnd. Ich musste ihm erzählen, das und dies; und ich plauderte dann auch tüchtig drauflos; die Erfüllung dieses schon fast aufgegebenen Wunsches versetzte mich in die heiterste Laune und löste mir die Zunge.
    Das schien ihm zu gefallen. Er rückte näher an mich heran, klopfte mir gar lieb auf die Wange und brachte mir schöne Bilder zum ansehen und auch einen Teller süßer Naschereien. Beglückt und enttäuscht zugleich schied ich nach vier Stunden von ihm. Beglückt durch diese entzückende wohlwollende Freundlichkeit – aber enttäuscht durch das heitere und offene Wesen des Mannes, in dessen Innern mein abenteuerlustiger Sinn furchtbare, dunkle Geheimnisse vermutet hatte.
    Meine Besuche wurden immer häufiger. Schließlich suchte ich jede Woche dreimal meinen lieben Gönner auf; seine alte Dienerin sah ich nie. Wir saßen immer allein beisammen in derselben Stube und sprachen über gar Manches. Er fand mich sehr verständig für mein Alter und sagte mir dies unverhohlen heraus. Aber so schlau ich es auch anstellte, so leise und behutsam ich darauf hinlenkte, Näheres über das Schicksal, das ihn so menschenfeindlich gemacht, zu erfahren – mein Bemühen blieb erfolglos. So oft er ein derartiges Bestreben
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