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Erzaehlungen aus dem Nachlass

Erzaehlungen aus dem Nachlass

Titel: Erzaehlungen aus dem Nachlass
Autoren: Rainer Maria Rilke
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bemerkte, brach er jäh ab, nahm ein Buch vor, oder füllte mir den Mund so mit Süßigkeiten, dass ich notwendig schweigen musste.
    Herbst und Winter waren also vergangen. Der Frühling sandte seine ersten Boten über Land, und die Bäume vor des Rathes Fenstern begannen kleine grüne Knöspchen zu treiben. – Ich wiederholte nach wie vor meine Besuche, und es war mir immer mehr offenbar geworden, dass mein väterlicher Freund über ganz bedeutende Kenntnisse verfügte, da er meiner frischen Schulweisheit, die ich mit dem Stolz eines vorzüglichen Lateinschülers auskramte, stets eine durch männliche Erfahrung gefestigte, stattliche Ansicht gegenüberstellte. – Einmal, als die junge sieghafte Sonne besonders hell durch die schneeweißen Gardinen guckte, legte mir der Rath wieder die Hand auf die Schulter – und sagte zögernd: »Nun, – und was möchtest denn du werden, Paul?«
    Ich überlegte nicht lange.
    Ich hatte mich in der Lateinstunde gerade an Horatius’ herrlichen Oden begeistert und rief daher lachend:
    »Ein Dichter möcht’ ich werden, – ein Dichter – wie Horatius wie…«
    Das Wort erstarb mir auf den Lippen.
    Ich erkannte den alten Mann vor mir kaum wieder.
    Sein Antlitz war aschfahl geworden, seine Lippen zuckten und in seinen Augen tauchte tief ein namenloser Schmerz auf. Er zog seine Hand, die ich beben fühlte, rasch zurück und strich sich ein paarmal über die bleiche Stirne. – Mir lief es kalt durch die Glieder.
    Ich wäre am liebsten aufgesprungen und davon geeilt.
    Aber ich wusste auch, jetzt stünde ich dicht vor der Stelle, wo das Geheimnis, dem ich nachzuspüren gewagt hatte, vergraben lag.
    So blieb ich denn. In den Gliedern glaubte ich Bleischwere zu empfinden. Ich starrte den Rath unverwandt an.
    Wie er jetzt matt die zitternde Hand von der Stirne gleiten ließ, erschrak ich, wie greisenhaft diese Züge in den wenigen Minuten geworden waren. – Herr Horn sah so aus, wie ich mir einen Toten – (gesehen hatte ich noch keinen) vorstellte. Die Augen waren irr und blickten ziellos in die Weite, die Wangen schienen eingefallen und unter dem Jochbein kauerten graue Schatten. Er schwieg.
    Ich regte mich nicht.
    Mählich nur schien wieder Leben in ihn zu kommen.
    Er setzte sich mühsam zu recht und sagte dann sehr leise:
    »Ich weiß, du hast mich gern. Du sollst es wissen, was bisher niemand erfahren hat.«
    Und hastig, als fürchtete er in seinem Entschlusse wankend zu werden, fuhr der Rath fort:
    »Ich war auf der Lateinschule – wie du. Begeistert von den alten Dichtern, war dein Wunsch – der meine! Dichter zu werden. Und das Schicksal war mir hold. Ich schrieb Lieder, die gelobt und gesungen wurden; und als ich auf der Universität von Halle meinen Doctor machte, setzte man große Hoffnungen auf mich. Das erste Werk, das ich veröffentlicht hatte, – kleine Geschichten warens – fand Beifall – und mein Glück schien fast zu groß werden zu wollen, als ich in Leipzig, nachdem ich eine bedeutendere Stellung errungen hatte, ein schönes blühendes Mädchen kennen lernte – und sie zu meiner Braut machen durfte. Ich war selig. – Aber der Götter Neid überraschte mich jäh in meinem Jubel. Meine Irmgard fiel einer tückischen Krankheit zum Opfer, kurz vor unserer Vermählung, und mir blieb nichts als die Erinnerung an den süßen, kurzen Liebestraum. Man fürchtete damals für meinen Verstand. – Mit Gewalt riss man mich weg von der blumenbelasteten Truhe, in der das Licht meines Lebens für ewig versenkt war. – Ich floh aus Leipzig fort, weil dort überall die Erinnerung klebte und wohnte in einem einsamen Häuschen hoch im Gebirge. Der wütende wogende Schmerz ebbte allmählich, und es blieb jene stumme Wehmut zurück, aus der die Bilder der Vergangenheit hold und verklärt auftauchen, wie segnende Wassergeister dem schweigenden Waldsee in duftschwülen Sommernächten entschweben…«
    Er stützte das Haupt in die Hand und ließ die letzten Worte langsam und träumerisch verklingen.
    Dann sprach er weiter:
    »So lebte ich – einsam und still. Aber in dieser Einsamkeit ward ein großer Gedanke wach in meiner Brust:
    Ich wollte Irmgarden ein ewig unvergängliches Denkmal setzen – in einem Dichtungswerke in einer gigantischen Riesenschöpfung. Die Welt sollte staunen und beben vor diesem Werke, beben vor heiliger Ehrfurcht und banger Bewunderung.
    Feuereifer beseelte mich.
    Tag und Nacht schrieb ich.
    Die Begeisterung riss mich fort. Ich fühlte, was ich leistete,
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