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Erzaehlungen aus dem Nachlass

Erzaehlungen aus dem Nachlass

Titel: Erzaehlungen aus dem Nachlass
Autoren: Rainer Maria Rilke
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wäre sie unter die Räder einer stattlichen Carosse gerathen, die eben auf der Rampe vorfuhr. – Sie schlich sich seitwärts – und blieb vor dem Theater stehen. Sie konnte nicht weiter. Die Füße waren ihr wie Blei. Es wirbelte ihr im Hirne. In den Ohren hörte sie Musik, frohe, hüpfende Klänge, aber nein, dann war es wieder wie das Knattern der Nähmaschine und dann war ein ungeheueres Brausen … Die Sinne vergingen ihr. Als sie wieder zu sich kam, stand sie noch immer an dieselbe Säule gelehnt vor dem Theater. Der Platz war längst leer, die Lampen waren verlöscht. Ein toller Herbststurm tanzte vor ihr einen wüthenden Wirbeltanz und riss Staub und Papierfetzen in weiten Kreisen mit sich. Sie fröstelte. Ein Husten befiel sie, ein rauher, unbarmherziger, quälender Husten. Die rothen Flecke erschienen auf ihren Wangen, und es überkam sie ein Gefühl von Einsamkeit und Hilflosigkeit. Ein schluchzendes Weinen stieg aus ihrer beklemmten Brust. Sie presste das seidene Tüchlein das sie kaum zu entfalten gewagt hatte fest an die Augen. – Die Kälte trieb sie vorwärts. Achtlos trat sie mit den dünnen Schuhen in die schmutzigen Pfützen und das Ende des sorgfältig gehegten Shawles. schleifte durch den Straßenkoth … So wankte sie fort in die heulende, lichtlose Herbstnacht …

Totentänze
Zwielicht-Skizzen aus unseren Tagen
    I
Und doch in den Tod
    Ein Augustmorgen ging goldsohlig an mir vorbei in den Wald.
    Ich lag da im krausen, glitzernden Moose und schaute ihm nach. Ich sah, wie er lichtgrüne Reflexe auf den silberweißen Kies schleuderte, als streute er Malachitkrystalle um sich her. Und ich vernahm seinen leisen, leichten Schritt, der die staunenden Blumen erweckte aus dem langen, lieblichen Schlummer.
    Ich streckte die Arme weit aus und blickte jetzt nur die hohen Lärchenwedel, die sich leise wiegten her, hin – her, hin, als sollten sie den blauen Himmel blank scheuern. Und er war doch so klar!
    Jetzt regneten mir silberne Pünktchen in die Augen, dicht, immer dichter, bis eine Fülle von Glanz auf ihnen wuchtete. Da schloß ich die Lider. Licht war in meiner Seele – und ich atmete tief und ruhig das starke, würzige Waldarom …
    Und da knackten die Äste. Ich rührte mich nicht. Aber ich dachte dunkel und verschwommen:
    Ein Reh – gewiß. Und ich stellte mir unwillkürlich das braune zartgelenkige Tier vor, wie es neugierig und zaghaft mit großem, schwarzem Auge aus grünem Blätterrahmen zu mir herüber staunt …
    Es knackte wieder.
    Aber das waren menschliche Schritte.
    Ich ward nüchtern. Mit jenem unwillkürlichen Schreck, den man empfindet, wenn ein Fremder uns in Träumen überrascht, richtete ich mich empor.
    Ich musterte die Runde.
    Nichts.
    Da – doch. Hinter dem Buschwerk: Eine Gestalt. Ein Mann. – Sein Gesicht sah ich nicht. Er trägt einen grauen Rock. – Ein Jäger, denk ich. Ich will mich wieder zurücklehnen. Aber – ich habe doch keine Ruhe.
    Lautlos, als hätte ich Angst, erhebe ich mich. Und da im Augenblick starrt mich ein Gesicht an, ein verzerrtes verhärmtes Gesicht, mit zwei unsteten, glimmenden Augen … Eine Hand hält er hoch. Und diese Hand – mein Gott – diese Hand preßt eine kleine Schußwaffe an den flachen Schlaf …
    Der Mann hat mich bemerkt. Schlaff fällt ihm der Arm herab.
    Ein kaltes höhnisches Lächeln umfurcht seine tief gezogenen Mundwinkel.
    Wir stehen einander stumm gegenüber. Sein Blick glimmt Zorn.
    Ich fasse Mut. Hart trete ich an ihn heran. Und ich sage nur ein Wort mühsam aus trockener, enger Kehle heraus:
    »Warum?«
    Und da lacht er. Ein Lachen, das den heiligen, blauen Morgen zerfetzt.
    Mich fröstelt. – Er aber schweigt.
    So stehen wir beide regungslos. – Hoch über uns rauschen die Wipfel. –
    Und dann packt den Mann vor mir ein Schluchzen, das ihn rüttelt. Und er kniet hin und faltet die aderreichen Hände:
    »Ich kann nicht leben« – stammelt er. – »Ich kann nicht …«
    Ich lasse seinen Schmerz austoben.
    Er wird ruhiger. Das Pistol birgt er in der Tasche. Und er erzählt mir:
    Er hat ein Weib daheim. – Er liebt dieses Weib. Und sie ist gut und sorglich.
    Aber es kommen Tage, da ihr Aug’ (sie hat blaue Augen) grün ist, ihre Wange bleich, und da ihre Lippe begehrlich sich wölbt, als schlürfe sie den süßen Duft eines trauten Geheimnisses.
    »Dann nennt sie mich beim Zunamen. Berger, sagt sie, und sie nennt mich sonst nie so. Dann weicht sie mir aus und schlägt die Lider nieder, wenn ich sie anschaue,
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