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Erzaehlungen aus dem Nachlass

Erzaehlungen aus dem Nachlass

Titel: Erzaehlungen aus dem Nachlass
Autoren: Rainer Maria Rilke
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er als des Mädchens Cavalier, – o, er wusste gar gut was er musste … Rasch wandte er sich der schönen Frevlerin zu. Aber das Wort erstarb ihm auf den Lippen, als er ihr hochgeschminktes lachendes Gesichtchen knapp vor sich sah, den weichen Mund zu einem kecken Lachen geschürzt … Alles was er sagte war ohngefähr: O, bitte schön, bitte schön. – Fortan ließ ihn das Mädchen nicht mehr aus ihrem Bann. Sie wiederholte ihre freien Scherze, die sich zum Theil auf Bettys Aufmerksamkeit, zum theil auf ihr ärmlich herausgeputztes Äußere bezogen, und Karl lachte mit, anfangs gezwungen, später aber stimmte er voll ein und stellte zwischen seiner rechten und linken Seite Vergleiche an, die sehr zu Gunsten der übermüthigen Blondine ausfielen. Ja, als der zweite Akt vorüber war, und die arme Kleine ihm ihr blasses Gesichtchen mit den matten Augen zuwandte, erschrak er über ihre Hässlichkeit und konnte gar nicht begreifen wie er bisher so verblendet gewesen war, sich mit diesem Wesen abzugeben. Seinen kleinlichen Verstand bedrängten jetzt auch andere Gedanken. Hatte er auch dem abscheulichen Ding da das Theater zahlen müssen! Was das gekostet hatte! Und er rechnete rasch wievieler Tage das wieder brauchte um diese Lücke seiner ohnehin mageren Geldtasche zu füllen. Zu ihrem letzten Namenstage hatte er ihr auch noch Blumen gebracht. Er gab sich die entsetzlichsten Scheltworte und rückte immer weiter von der geschmähten Geliebten weg, so dass er, wenn er den Kopf ein wenig nach links neigte, schon die Löckchen seiner neuen, schönen Freundin zu berühren glaubte.
    So begann der 3. Akt. Seine Nachbarin ward immer munterer und lauter, so dass bereits von unten eindringliche »Pst«! und mahnende Blicke heraufgeschleudert wurden. Mitten im Akte erhob sich die schöne, die wie er einstweilen vernommen hatte, Dora hieß: Sie neigte sich zu ihm, dass er ihren Athem spürte: »Mir ist zu heiß hier, ich fühle mich unwohl … und so viel Menschen«, fügte sie wie rathlos hinzu. Karl überlegte: was sollte er thun? Sollte er sie begleiten? Und Betty! Ach was Betty! Er konnte ja dann ‘wiederkommen – und schließlich … Zwei Minuten später bahnte Karl seiner Verführerin den Weg durch die ärgerlich ausweichenden Menschen. – Betty hatte nichts bemerkt. Die Operette neigte sich dem Ende zu. Das arme Mädchen, das aus ihrem lichtlosen Leben ganz in die tönende Athmosphäre der heiteren Handlung sich versetzt fühlte, wandte kein Auge von der Bühne und erwartete mit angehaltenem Athem die Vereinigung der beiden Liebenden dort unten. Sie zitterte für ihr Glück. Sich selbst setzte sie an Stelle der schönen reichen Bühnen-Prinzessin und ihr Karl, ihr guter, guter Karl, das war ihr Prinz … Und sie lachte vor Freude und Glück über diesen gelungenen Vergleich. Jetzt waren alle Hindernisse dort überwunden. Der Vater hatte ja gesagt, der Nebenbuhler war entflohen und Prinz und Prinzessin schritten unter den Klängen eines stolzen Marsches zur Kirche –. So werden auch wir dachte sie – ich und Karl zur Kirche gehen … und ohne den Blick abzuwenden griff sie nach der Hand ihres Geliebten. Zwei, drei Mal tappte sie in die Luft, dann stieß sie hart auf das Holz des Sitzes neben ihr. Erschrocken sah sie auf. Die Plätze neben ihr waren leer. »Karl« rief sie, auf ihre Umgebung vergessend. Ihr Schrei verhallte in dem lauten Applaus. Sie aber war wie gelähmt. Alle Leute rings waren schon aufgestanden und eilten dem Ausgang zu. Endlich folgte sie ihnen. Sie ließ sich von der Menge drängen und schieben. Sie wusste nicht wie ihr war. Die Augen standen ihr voll Thränen. – Da quoll ein dichter Menschenstrom aus den Räumen wo das Büffet war. Dort, dort erkannte sie auf einmal Karl. Ja, gewiss er war es! Sie drückte sich vor. Aber als sie zehn Schritte weit entfernt war bemerkte sie das Frauenzimmer an seinem Arme. – Sie blieb starrstehen. – Ein heftiger Schmerz stach sie im Herzen. Alles, Menschen, Säulen, Gänge begann sich mit ihr zu drehen. Sie hielt sich an der Wand fest. – Langsam erholte sie sich wieder.
    Mühsam stieg sie die Treppen hinab. Hier und dort spöttelten ein paar Diener über sie. – Sie sah nicht was um sie geschah. Ihr war so eng in der Brust. Sie rang nach Athem. Sinnlos stürzte sie durch die nächste Thür ins Freie. Der kalte Wind fuhr ihr ins Gesicht. Da packte sie rauh jemand bei der Schulter. »He« rief der Thürsteher und riss sie zurück. Im nächsten Augenblicke
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