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Erzaehlungen aus dem Nachlass

Erzaehlungen aus dem Nachlass

Titel: Erzaehlungen aus dem Nachlass
Autoren: Rainer Maria Rilke
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Augenblick rann ein Flüstern und Wispern durch die Weiten, aber das erste Glockenzeichen zerschnitt den Lärm. – Still. Der Vorhang rauschte empor. Betty schaute unverwandt auf die Bühne. Beide Ellenbogen hatte sie auf die Brüstung gelegt und den Kopf in die Hände gestützt. Alles um sich hatte sie vergessen. Dort sah sie eine herrliche Landschaft und reich gekleidete Menschen; und jetzt als Trommeln wirbelten, Trompeten schmetterten und der Chor in einem flotten Antrittslied sich einführte, da glaubte sie vor Seligkeit vergehen zu müssen – auf der Stelle.
    Karl sah mit der Miene eines Menschen den nichts mehr überraschen kann, drein. Froh, dass Betty so vertieft war, fand er Gelegenheit sich mit seiner Nachbarin zu beschäftigen, die fest an ihn geschmiegt, – die Sitze sind so eng auf der Gallerie – ins Weite schaute. Er beobachtete sie. Bei den Ringellöckchen fing er an, die tief in die Stirne hinabfielen, streifte mit dem Blicke das zarte Profil mit dem feinen etwas vorlauten Näschen, den hochrothen sinnlich aufgeworfenen Lippen, dann den vom dünnen Satinstoff eng überspannten wogenden Busen und hinab, hinab bis zu dem spitzen vertretenen Lackstiefelchen, das den Takt eines kecken Liedes mechanisch mithämmerte. Zwei, drei Mal wiederholte er dieses Manöver. Beim Dritten Male blieb sein Blick an den blauen großen Augen des Mädchens haften eine ganze, lange Weile. Sie zuckte mit den Schultern und schaute auf. Der Commis ward roth bis über die Ohren und biss sich die Lippen. – Seine Nachbarin aber rückte noch näher an ihn. Er fühlte ihre weiche, warme Schulter, und es durchrieselte ihn vom Scheitel bis zur Sohle. Er empfand wie ihm heiß ward. Langsam wischte er sich mit dem Taschentuch die Stirne. Da wandte sich Betty auf einmal lachend zu ihm: »Schau,« – ihre Augen glänzten – »schau, wie komisch!« Er fuhr wie aus einem Traum, schaute erst ziemlich dumm drein, fasste sich dann und lachte ein wenig mit. – Die kleine Konfektioneuse aber hatte wieder nur Aug’ und Ohr für die Vorgänge auf der Bühne.
    Karls Nachbarin ließ jetzt ihr Taschentuch fallen. Der bereitwillige Galan bückte sich mit verbindlichem Lächeln. Sie sprach ihn an. Er antwortete erst verlegen, dann immer dreister und dreister, und steigerte seine Liebenswürdigkeit endlich bis zu jenem hinreißenden Grade mit welchem er besonders pünktlichzahlende Kunden auszuzeichnen pflegte. Er ließ seiner tropenreichen Rede freien Fluss, sprach von der Schönheit der Frauen und ihren Reizen, wie es in dem Colportageroman stand, dessen schönste Stellen er täglich vor dem Einschlafen auf’s Neue durchlas. Seine Schöne berauschte sich in ihren Sitz zurückgelehnt an dem Weihrauchduft dieser Schmeicheleien und strafte ihn nur manchmals, wenn er zu kühn wurde, indem sie ihn mit dem Fuß anstieß, was ihn stets verlegen machte und über und über erröthen ließ. Endlich hingerissen durch den Zauber seiner Nachbarin bückte sich Karl um ihre kleine weiche Hand zu küssen … Da ward es hell. Der erste Act war vorüber. Wie ein ertappter Schuljunge fuhr der Commis zurück und setzte sich mit komischer Grandezza zurecht. – Zu dumm! Er hörte wie seine Schöne kicherte. Da wandte sich auch noch seine Begleiterin zu ihm und begann ihn wieder mit einer Flut von Begeisterung und Dankesversicherungen zu überschütten, dass er Gott dankte, als das Theater sich wieder verdunkelte und die entzückte Betty ihre ganze Aufmerksamkeit wieder dem Stücke zuwandte.
    Eigentlich that sie ihm leid, seine Betty! Wie herzlich u. innig sie ihm dankte! Sie war doch ein gutes Wesen und er dachte, wie er ihr immer gesagt hatte: »Wir werden uns heiraten« … und jetzt? … Schämen sollte er sich. – Er wollte alles wieder gut machen; sich um seine Nachbarin nicht kümmern, auf die Bühne schauen und der guten Betty treu bleiben. Sicher – er hatte sie ja doch sehr gern. – Er schaute also auf die Bühne. Dort sang ein schmachtender Liebhaber zu Füßen seiner Angebeteten schmelzenden Schwüre. Karl vertiefte sich in das Wesen der Handlung so gut er es vermochte, berechnete dabei gewohnheitsgemäß wie viel Meter doppeltbreit die Sängerin zu ihrem reichen Kostüm gebraucht habe … Da fühlte er wie sich ein Arm leise unter den seinen schob. Wie geschmolzenes Blei rann es ihm über den Rücken. Er rührte sich nicht. Seine blonde Nachbarin raunte ihm ein paar Scherzworte ins Ohr über Betty. Er war empört. Über seine Betty. Da musste
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