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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen
Autoren: Paul Verne
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die Ehre zu geben, muß ich indessen gestehen, daß unsere Späße äußerst matt, und die Melodieen nicht immer richtig waren. Ich glaubte sogar zu bemerken, daß Levesque den Text für die große Arie des »Trovatore« aus dem »Blaubart« wählte, was, wie mir jeder Unparteiische zugestehen wird, eine gewisse geistige Befangenheit verräth. Kurz, wir machten es wie die Kinder, die im Dunkeln singen, um sich Muth einzuflößen.
    So schwebten wir während einer Stunde, die uns wie eine Ewigkeit vorkam, zwischen Leben und Tod, ehe wir endlich, endlich am unteren Ende der fürchterlichen Wand anlangten. Hier fanden wir zu unserer großen Freude Herrn N… nebst seinen Begleitern unversehrt vor und setzten nach wenigen Minuten der Ruhe unseren Marsch fort.
    Als wir uns dem Petit-Plateau näherten, blieb plötzlich Eduard Ravanel stehen und rief:
    »Sehen Sie diese ungeheure Lawine! sie hat unsere Spuren total ausgefüllt.«
    Wirklich bedeckte eine enorme, von dem Dom-du-Goûter herabgefallene Eislawine gänzlich die am Morgen von uns verfolgte Straße, auf der wir jetzt das Petit-Plateau zu überschreiten gedachten. Ich kann die Masse der Lawine nicht geringer als auf fünfhundert Kubikmeter abschätzen. Hätte sie sich in dem Augenblick unseres Durchzuges losgelöst, so wäre ohne Zweifel der schon so langen Liste des Mont-Blanc-Nekrologs eine neue Katastrophe anzureihen gewesen.
    Wir mußten letzt entweder am Fuß der Lawine hergehen oder uns einen anderen Weg suchen. In Anbetracht unserer furchtbaren Erschöpfung war der letztere Entschluß uns am wenigsten willkommen, der Pfad neben der Lawine aber bot die größte Gefahr. Am Dom-du-Goûter hatte sich eine Eiswand von mehr als zwanzig Meter Höhe schon theilweise losgelöst; sie hing nur noch mit einer Seite fest und überdachte so die Bahn, die wir jetzt überschreiten sollten. Der kolossale Firnblock schien sich noch im Gleichgewicht zu halten – würde unser Durchzug, die Erschütterung der Atmosphäre nicht seinen Fall beschleunigen? Unsere Führer traten abermals mit einander in Berathung. Jeder prüfte mit dem Perspectiv den Spalt, der sich zwischen dem Berge selbst und dieser beunruhigenden Masse gebildet hatte; aber es blieb kein Zweifel: die klaren deutlichen Ränder des Risses verkündeten einen frischen Sprung, der augenscheinlich durch den Fall der Lawine veranlaßt worden war.
    Nach einer kurzen Discussion beschlossen sie, daß wir diese gefährliche Passage antreten sollten.
    »Wir müssen sehr schnell gehen, ja sogar wenn irgend möglich laufen, erklärten sie; frisch auf, meine Herren! noch ein letzter, kräftiger Ansatz!«
    Fünf Minuten zu laufen ist etwas geringes für Leute, die nur ermüdet sind; für uns aber, die wir mit unserer Kraft am Ende zu sein meinten schien ein Lauf, wenn auch nur für so kurze Dauer, auf weichem Schnee, in den wir bei jedem Schritt bis an die Kniee einsanken, unausführbar. Trotzdem nahmen wir all unsere Energie zusammen, und nach drei bis vier Purzelbäumen erreichten wir, von den Einen gezogen, von den Anderen gestoßen, einen Schneehügel, auf dem wir erschöpft zusammensanken. Wir waren außer Gefahr!
    Mit einer Genugthuung, die Jedem begreiflich sein wird, streckten wir uns auf dem Schnee aus; vor einigen Minuten der Erholung konnte nicht an die Weiterreise gedacht werden. Die größten Schwierigkeiten hatten wir überwunden, und den Gefahren, die jetzt noch zu überstehen waren, konnten wir getrost die Stirn bieten.
    Wir verlängerten in der Hoffnung, dem Sturz der Lawine beizuwohnen, unsern Aufenthalt, aber unser Warten erwies sich als vergebens; der Tag begann sich zu neigen, und da eine Verspätung in diesen Einöden durchaus vermieden werden mußte, beschlossen wir unseren Weg fortzusetzen, und kamen gegen fünf Uhr bei der Hütte der Grands-Mulets an.
    Nach einer unruhigen Nacht und einem heftigen Fieberanfall, der aller Wahrscheinlichkeit nach durch die senkrecht fallenden Sonnenstrahlen auf unsere Expedition verursacht war, machten wir uns bereit, nach Chamouni zurückzukehren; vor unserer Abreise schrieben wir jedoch nach Sitte und Gebrauch unsere Namen, so wie die unserer Führer, und unsere hauptsächlichsten Erlebnisse in ein dazu bestimmtes Buch.
    Als ich dies Register durchblätterte, in welchem der mehr oder weniger glücklich gewählte, aber stets überströmend aufrichtige Ausdruck der Bewunderung für eine neue ungekannte Welt enthalten ist, bemerkte ich auch einen in englischer Sprache
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