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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen
Autoren: Thomas Bernhard
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anderen, die Schuld, das Verbrechen des anderen, aber jeder vermutete , daß der Kerker des anderen und die Schuld und das Verbrechen des anderen die eigenen waren. Unser Mißtrauen füreinander und gegeneinander hatte sich im Laufe der Zeit in dem Maße verstärkt, in welchem wir mehr und mehr zusammengehörten, uns nicht mehr verlassen wollten. Dabei haßten wir uns, und wir waren auch die entgegengesetztesten Geschöpfe, die man sich denken kann; alles des einen schien vom anderen, ja aus dem anderen , wir beide glichen uns aber doch in nichts und in keiner Sache, in gar keiner Empfindung, in nichts. Unddoch hätte jeder von uns der andere sein können, alles des einen hätte vom anderen kommen können ... ich sagte mir oft, daß ich Georg sein könnte , alles, was Georg war, das bedeutete aber, daß nichts von Georg aus mir war ... Wie andere Studenten sich, wenn sie in die Hauptstadt geschickt sind, mit viel Schwung an deren Zerstreuungsmöglichkeiten erfreuen und erfrischen, blieb uns doch rätselhaft, uns beide begeisterte nichts, wir fanden an nichts Gefallen, der Geist der Hauptstadt war doch ein toter, ihre Vergnügungsapparatur uns zu primitiv.
    Wir operierten von Anfang an, er wie ich, mit dem Scharfsinn, alles unterwarfen wir unserer in fast allen Fällen tödlichen Kritik; schließlich mißglückten unsere Ausbruchversuche, alles bedrückte uns, wir erkrankten, wir errichteten unser Kanalsystem. Wir hatten uns schon in den ersten Wochen aus dem schweigenden Größenwahn Wiens zurückgezogen, aus der Stadt, in der nun keine Geschichte, keine Kunst, keine Wissenschaft mehr war, in der nichts mehr war. Aber schon vor meiner Ankunft in Wien, noch in der Eisenbahn, war ich (wie auch er), waren wir beide, unabhängig voneinander, von einem uns nach und nach traurig machenden Fieber, einer Krankheit angegriffen gewesen, ich von einer in meinem Unterbewußtsein genauso wie im vollen Bewußtsein sich folgerichtig von allem Außen in mich herein vollziehenden Verstörung zur Todesreizbarkeit und, in einem der vielen finsteren unserer Schnellzugsabteile, die mit hoher Geschwindigkeit durch das Land gezogen werden, sitzend, in Wahrnehmung meiner selbst und in Wahrnehmung dessen, was mit mir auf immer zusammenhing, von dem ersten Selbstmordgedanken, Selbstmordgedankenansatz nach langer Zeit überrascht. Mit was für einer grauen und gegen mich ungemein strengen Trübsinnigkeit hatte ich auf einmal zwischen den Melker Hügeln vorliebnehmen müssen! Auf dieser Fahrt, die ich gegen meinen Willen zu fahren gezwungen gewesen war, hatte ich mir des öfteren meinen Tod gewünscht, diesen raschen, plötzlichen,schmerzlosen, von dem nur ein Bild der Ruhe zurückbleibt; vornehmlich in den gefährlichen Kurven, wie dort knapp an der Donau bei Ybbs. Die Anreise junger Menschen aus der Provinz in die Hauptstadt, um ein gefürchtetes Studium anzufangen, um ein Studium, das die meisten nicht wollen, geht fast immer unter den entsetzlichsten Umständen in Gehirn und Verstand und Gefühl des Betroffenen und Betrogenen und auf solche Weise Gefolterten vor sich. Das Selbstmorddenken der sich in der Dämmerung im Zug einer Höheren oder Hochschule oder Universität in der Hauptstadt furchtsam und in allen Fällen immer weniger kühn als vermutet Nähernden ist das Selbstverständlichste. Wie viele und nicht wenige, die ich gekannt habe und mit welchen ich aufgewachsen bin und die mir genannt worden sind, haben sich schon kurz nach der Verabschiedung von den Eltern auf dem heimatlichen Bahnhof aus dem fahrenden Zug gestürzt ... Was mich und was Georg betrifft, so haben wir uns gegenseitig niemals unsere Selbstmordperspektiven enthüllt, wir wußten nur voneinander, daß wir in ihnen zu Hause waren. Wir waren wie in unserem Zimmer und in unserem Kanalsystem, in unseren Selbstmordgedanken wie in einem höhern Spiel, einem der höheren Mathematik vergleichbaren, eingeschlossen. In diesem Höheren Selbstmordspiel ließen wir uns oft wochenlang völlig in Ruhe. Wir studierten und dachten an Selbstmord; wir lasen und dachten an Selbstmord; wir verkrochen uns und schliefen und träumten und dachten an Selbstmord. Wir fühlten uns in unserem Selbstmorddenken alleingelassen, ungestört, niemand kümmerte sich um uns. Es stand uns jederzeit frei, uns umzubringen, wir brachten uns aber nicht um. So fremd wir uns immer gewesen waren, es gab keine der vielen Hunderttausende von geruchlosen Menschengeheimnissen zwischen uns, nur das Naturgeheimnis
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