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Erzaehl mir ein Geheimnis

Erzaehl mir ein Geheimnis

Titel: Erzaehl mir ein Geheimnis
Autoren: Holly Cupala
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die Kunsthochschule vorbereitete und heiße Jungs abcheckte, die sich für Kunst interessierten.
    Eli war nicht gerade beeindruckt von unserer Detektivarbeit. »Seid ihr blind?«, fragte er. »Das ist Kamran Ziyal. Der hängt hier schon seit der zweiten Klasse rum.«
    Eli war so was von hochnäsig, so auf die Ich-bin-unendlich-viel-schlauer-als-du-Tour, und irgendwie fand Essence das anziehend. Er sei zu cool, um sich mit dem Rest von uns abzugeben, fand er. Jedenfalls klärte er uns weiter auf, dass Kamran am MIT, dem Massachusetts Institute of Technology, Luft- und Raumfahrt studieren wolle. Perfekt, das wäre nur einen Steinwurf vom Ort meiner Wahl entfernt, der Baird School of Fine Arts in Boston.
    Ich war zu schüchtern, um diesen geheimnisvollen Kamran anzusprechen. Bis zu dem Tag, an dem ich ihn erwischte, wie er mit Bleistift und Pergamentpapier an dem Glaskasten in der Ausstellung stand und versuchte, meine Arbeit abzupausen.
    »Hey!«, rief ich, und vor lauter Empörung löste sich das erste Mal seit Wochen der Knoten in meiner Zunge wie von selbst. »Das kannst du nicht einfach abpausen! Das ist meins!« Wahrscheinlich klang ich wie eine bockige Zwölfjährige, aber das war mir egal. Wenn Herr MIT-Astronaut meine Kunst hier einfach nur klauen wollte, dann hatte ich ja wohl das Recht, hier einen Aufstand zu machen, ob das nun nach einer Zwölfjährigen klang oder nicht.
    Er drehte sich zu mir um, und ich sah in seine klaren olivgrünen Augen. Sein Blick traf mich wie ein Schlag. Ich öffnete den Mund, wollte ihn anbrüllen, wollte ihm irgendwas an den Kopf werfen – aber er grinste mich so frech an, hatte ein so großspuriges Lächeln, dass alle Regeln der Kommunikation in meinem Kopf außer Kraft gesetzt wurden.
    Diese weißen Zähne … diese schönen Lippen … diese Wimpern. Ich konnte ihnen keinen Sinn mehr zuordnen. Außer, dass sie mit mir sprachen. Na ja, seine Lippen sprachen mit mir. Die Augen betrachteten mich auf die gleiche Weise, wie sie die letzten Monate meine Kunstwerke bewundert hatten, irgendwie nach etwas suchend, das jenseits aller Dimensionen lag.
    »Ich hab das nicht abgepaust, ich habe nur eine Skizze davon gemacht, für das Gedicht, das ich über deine Kunstwerke schreibe. Ich wollte es mir besser merken können.«
    Dieser Typ schrieb also Gedichte. Über meine Kunst. Ich dachte, ich müsste ohnmächtig werden.
    »Ich studiere den Hyperraum, weißt du, diese Wurmlöcher. Sie ähneln deinen Labyrinthen. Nur bilden sie keine Landschaften, sondern durchqueren Zeit und Raum und vielleicht sogar eine unendliche Anzahl von Galaxien. Darum wollte ich über sie schreiben. Deine Kunstwerke haben mich inspiriert.«
    Alles klar, ich hyperventilierte, war im Hyperraum mit diesem süßen Jungen, der Gedichte schrieb.
    »Oh … oh«, stammelte ich. »Also schreibst du über Wurmlöcher, die so ähnlich sind wie Labyrinthe, ich meine … Labyrinthe sind meine Leidenschaft.« Das waren sie auch, seit Xandas Tod.
    Er lächelte. »Das seh ich. Ich steh auch auf Labyrinthe.«
    Von diesem Moment an war ich infiziert. Ich checkte ständig, ob Mystery-Man Kamran irgendwo um meine Kunst herumschlich und hoffentlich dabei so viel an mich dachte wie ich an ihn.
    Ich hatte Angst, dass er verschwinden würde, wenn die Ausstellung zu Ende war.
    ***
    Alles, was letztes Jahr passiert war, schien jetzt unwiderruflich. Auch die Begegnung von Kamran und mir. Die Bekanntschaft mit Delaney. Der Verlust von Essence. Die Entscheidungen, die wir trafen, als wir uns das letzte Mal sahen.
    Ich hätte mich sicher nicht dafür entschieden, den Sommer vor meinem Schulabschluss in einem Camp zu verbringen, um dort Kunstunterricht zu geben. Aber meine Mutter sagte: »Du kannst keine Lehrerin werden, wenn du nicht irgendwann beginnst, Erfahrungen zu sammeln.« Ich will Kunst machen, Mom, nicht unterrichten . Doch es war sinnlos, ihr mit irgendwas zu kommen, wenn ihre Meinung feststand. Und Geld gehört auf die Bank , würde Dad sagen. Man weiß nie, wann man es brauchen kann.
    Es war, als hätten sie alles bereits gewusst und sich schon die perfekte Strafe für mich ausgedacht. Es hätte wirklich kaum schlimmer sein können: neun Wochen kirchliches Kiddie-Camp, achtzig Meilen außerhalb von Seattle. Neun Wochen. Neunhundert Kinder. Und mindestens neun verschiedene Verhaltensstörungen.
    Während ich also Kreuze und Regenbogen malen musste und von all der Hitze und dem kollektiven, vorpubertären Körpergeruch schier krank
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