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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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Morphium spritzen gegen die Schmerzen.

    Aber vor allem dachte sie, er ist noch hier. Der Jemand, der das getan hat, ist noch hier, und er ist noch nicht fertig.
    Sie hörte seine Schritte. Die Haut in ihrem Nacken kribbelte. Schweiß rann ihr über den Rücken, zwischen die Beine. Sie hörte, wie er näher kam; leise, langsam, kaum wahrnehmbar. Ein Rascheln von Stoff, das Knistern von Plastik. Gedämpftes Atmen, wieder ein Knacken, ein anderes diesmal, als versuchte jemand, eine Verspannung zu lösen, indem er den Kopf hin und her drehte.
    Sie dachte, wir haben ihn gestört, bevor er fertig war. Er kann nicht zulassen, dass wir sie mitnehmen, dass wir sie retten, dass sie redet. Sie hat ihn erkannt.
    Sie dachte, du bist keine Ärztin mehr. Du bist das nächste Opfer.
    Â»Max!«, rief sie. Die beiden Zeitebenen verschmolzen wieder, und sie rief noch einmal: »Max, ich brauche dich hier!«, damit der Mann, der fast geräuschlos durch den dunklen Flur näher kam, wusste, dass sie nicht allein war. Sie griff nach der Lampe und leuchtete in den Flur, in dem sie das Rascheln gehört hatte. Der Lichtkegel glitt über die zappelnden Fische, verlor sich in der Finsternis. Unvermittelt schnappte die verletzte Frau mehrmals nach Luft, dann hörte sie auf zu atmen; sie zitterte auch nicht mehr.
    Ella brauchte Hilfe, allein konnte sie die Frau nicht versorgen. Aber ich muss es versuchen, selbst wenn im Lehrbuch was anderes steht. Ich muss es wenigstens versuchen. Bloß wo sollte sie eine Vene finden, um die Injektionsnadel zu setzen? Die Frau hatte keine fühlbare Venenspannung mehr, weil es kaum noch Blut in ihrem Körper gab. Man musste erst ein Stauband anlegen, aber wo?
    Es hat keinen Sinn, lauf weg! Lauf weg und warte auf Hilfe.
    Nein, ich kann sie nicht alleinlassen.
    Warum nicht, verdammt? Warum kannst du sie nicht einfach hier liegen lassen? Sie stirbt wahrscheinlich sowieso.

    Nein.
    Denk an das Kaninchen. Denk an den Habicht.
    Wenn du jetzt wegläufst, wird der Habicht zurückkommen und seine Arbeit beenden.
    Ella richtete den Strahl der Lampe auf das zerstörte Gesicht, sah nur Blut und aufgerissenes Fleich und weite, lichtstarre Pupillen. Rasch tastete sie nach der Arteria carotis communis, suchte einen Puls und fand keinen mehr, nicht den geringsten. Alles stand still, Herz, Kreislauf, die Frau starb. Verdammt, ich verliere sie, ich brauche den Defi. Aber das Risiko war zu groß: Die Brust der Frau war nass, sie lag in einer Lache aus Blut und Wasser.
    Ella nahm die Lampe zwischen die Zähne, richtete sich halb auf und stemmte sich mit beiden Händen auf die Brust der Frau, auf das zerschnittene Fleisch. Als sie auf den gebrochenen Rippen Halt gefunden hatte, drückte sie und ließ nach, drückte und ließ nach und drückte, drückte, drückte. Komm schon, atme, atme! Sie ließ die Augen nicht vom Gesicht der Frau , aber nichts geschah, die Augen blieben leblos, die Atmung setzte nicht wieder ein.
    Sie hob beide Hände, verschränkte die Finger und schlug mit aller Kraft auf die Brust, keine Sorge mehr wegen der Rippen, sie ist ja schon tot. Der Körper der Frau hüpfte ein wenig, und als Ella noch einmal zuschlug, so heftig, wie sie konnte, hüpfte er wieder, und das war alles. Die Atmung blieb weg, der Puls kehrte nicht zurück.
    Ella kauerte sich auf die Fersen, zog hastig den Koffer heran und holte eine Injektionsnadel und eine Phiole mit Noradrenalin heraus. Dazu brauchte sie die Taschenlampe nicht, das konnte sie blind, die Spritze auspacken, die Phiolenkappe abbrechen, die Spritze aufziehen, die Luft rausdrücken und die Nadel zwischen den Rippen ins Herz stoßen, um den Inhalt hineinzupumpen. Sie konnte spüren, wie der Herzmuskel zündete
und ansprang; fast wurde ihr die Spritze aus der Hand geprellt.
    Ein Ruck lief durch den Körper der Frau. Sie schnappte wieder nach Luft, verschluckte sich, und auf einen Schlag kehrte das Leben in ihre Augen zurück. Jählings schrie sie vor Schmerz. Ein endloser Schrei entrang sich ihrer Kehle. Sie schrie und hörte nicht wieder auf.
    Ella fuhr entsetzt zurück, ihr Blick irrte Hilfe suchend durch den Raum. Da sah sie ihn. Dort, wo der Flur zu den hinteren Räumen begann, veränderte sich die Dunkelheit, schien sich zu verdichten, nahm Kanten und Konturen an, die Gestalt eines Mannes. Der Mann stand völlig bewegungslos da und starrte sie an. Wie ein Raubtier,
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