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Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Titel: Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)
Autoren: Henning Mankell
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einen schmutzigen Engel genannt.
    Die Erinnerung ist fern, verblasst. Hanna ist so weit weg von ihrem Vater und seinem Tod. Damals, ein einsames Haus am braunen kalten Wasser des Ljungans in einem stillen norrländischen Binnenland. Er starb zusammengekrümmt vor Schmerzen im ausziehbaren Bett in einer Küche, die die Wärme nicht halten konnte.
    Er starb umgeben von Kälte, denkt sie. Die Kälte war streng im Januar 1899, als er aufhörte zu atmen.
    Es sind mehr als fünf Jahre vergangen, jetzt haben wir Juni 1904.
    Die Erinnerung an den Vater und seine Worte über den Engel verschwinden so rasch, wie sie gekommen sind. Nach wenigen Sekunden ist sie aus der Vergangenheit zurückgekehrt.
    Sie weiß, dass man die bemerkenswertesten Reisen in der Innenwelt macht, wo weder Zeit noch Raum existieren.
    Vielleicht wollte das Erinnerungsbild ihr helfen? Ihr ein Seil zuwerfen, damit sie über die Mauer der betäubenden Trauer klettern könnte?
    Aber sie kann nicht fliehen. Das Schiff hat sich in eine unüberwindbare Festung verwandelt. Sie kommt nicht hinaus. Ihr Mann ist wirklich tot.
    Der Tod: wie eine Kralle. Die sich weigert, ihren Griff zu lockern.

3
     
    Der Druck in den Dampfkesseln ist gesenkt worden. Die Kolben in den Zylindern bewegen sich nicht mehr, die Maschine ruht. Hanna steht an der Reling mit ihrem Abfalleimer in der Hand, um ihn zu entleeren. Der Messjunge wollte ihn ihr abnehmen, aber sie hielt ihn fest, verteidigte ihn. Auch wenn sie an diesem Tag zusehen wird, wie ihr Mann in der Meerestiefe versinkt, eingenäht in Segeltuch, will sie ihre Pflichten nicht vernachlässigen.
    Als sie von dem Eimer aufschaut, der mit Eierschalen gefüllt ist, schlägt ihr die Hitze ins Gesicht. Irgendwo im Dunst an Steuerbord liegt Afrika. Obwohl sie nicht die leiseste Andeutung von Land sehen kann, meint sie, den Geruch wahrzunehmen.
    Er, der jetzt tot ist, hat ihr davon erzählt. Von dem dampfenden, fast ätzenden Geruch von Fäulnis, der sich überall in den Tropen findet.
    Mehrere Reisen hat er schon gemacht, zu verschiedenen Zielen. Vieles hat er gelernt. Nur nicht das Wichtigste, das Überleben.
    Diese Reise sollte er nicht vollenden. Er starb im Alter von vierundzwanzig Jahren.
    Es ist, als hätte er sie warnen wollen, denkt Hanna. Aber sie weiß nicht, wovor.
    Der Tote ist ohne Antwort.
    Jemand stellt sich still an ihre Seite. Der engste Freund ihres Mannes an Bord, der norwegische Zimmermann Halvorsen. Ob er einen Vornamen hat, weiß sie nicht. Obwohl sie seit mehr als zwei Monaten zusammen auf dem Schiff sind. Er ist einfach nur Halvorsen, ein ernster Mann, von dem es heißt, er würde jedes Mal, wenn er nach ein paar Jahren auf See heim nach Brönnöysund kommt, auf die Knie fallen und bekehrt werden, um dann doch wieder anzuheuern, wenn sein Glaube ihn nicht länger trägt.
    Er hat große Hände, aber sein Gesicht ist weich, fast weiblich. Der Stoppelbart scheint von jemandem, der ihm übel mitspielen wollte, aufgemalt worden zu sein.
    »Ich habe verstanden, dass da etwas ist, wonach du fragen willst«, sagt er. Seine Stimme singt. Es klingt wie ein Summen, wenn er spricht.
    »Die Tiefe«, sagt Hanna. »Wo wird Lundmarks Grab sein?«
    Halvorsen schüttelt nachdenklich den Kopf. Plötzlich erinnert er sie an einen unruhigen Vogel, der auffliegen will.
    Schweigend verlässt er sie. Aber sie weiß, dass er die Antwort für sie finden wird.
    In welcher Tiefe wird das Grab liegen? Gibt es einen Meeresgrund, auf dem ihr Mann in dem zugenähten Segeltuch ruhen wird? Oder ist da nichts, eine Tiefe, die sich in alle Unendlichkeit fortsetzt?
    Sie leert den Eimer, sieht die weißen Vögel im Sturzflug auf das Wasser hinabtauchen, um die Beute zu fangen, und wischt sich mit dem Handtuch, das sie an ihre Schürze geknotet hat, den Schweiß von der Stirn. Dann tut sie das Unvermeidliche. Sie schreit.
    Einige Vögel, die sich in Erwartung der Leerung eines weiteren Abfalleimers vom Aufwind tragen lassen, legen die Flügel an und ziehen sich von dem Trauergeheul zurück, das sie wie Hagel trifft.
    Der Messjunge Lars schaut erschrocken aus der Kombüse, in der Hand ein aufgeschlagenes Ei. Er sieht sie heimlich an, der Tod macht ihn verlegen.
    Sie ahnt, was er denkt. Jetzt springt sie, jetzt verlässt sie uns, da die Trauer zu schwer zu ertragen ist.
    Der Schrei ist von mehreren Leuten an Bord gehört worden. Zwei verschwitzte Jungmänner mit nacktem Oberkörper stellen sich neben die Kombüse und glotzen, genau dort, wo eine
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