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Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Titel: Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)
Autoren: Henning Mankell
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sagte, was sie erwartete: Es kam vor, dass Kaufleute von der Küste, die durch die Wintertäler zum Markt von Röros fuhren und dann wieder zurückkehrten, nicht den kürzesten Weg nahmen, entlang des Ljusnan und hinunter nach Kårböle. Einige fuhren nach Norden, nachdem sie wieder über die norwegische Grenze zurückgekommen waren, bogen über die Flatruet ab, wenn das Wetter es erlaubte, um Geschäfte in den Dörfern entlang des Ljungans zu machen.
    Jonathan Forsman pflegte regelmäßig den Heimweg über die Dörfer nördlich der Flatruet zu nehmen.
    »Er hat einen großen Schlitten«, sagte Elin. »Auf dem Rückweg ist er nie so stark beladen wie auf dem Hinweg nach Röros. Er gibt dir bestimmt einen Platz. Und er lässt dich in Ruhe. Er rührt dich nicht an.«
    Hanna sah sie fragend an. Wie konnte Elin da so sicher sein? Hanna wusste, was sie im Leben erwartete, schließlich hatte auch sie Freundinnen zum Schwatzen gehabt. Nicht zuletzt die Sennerinnen, die ihr kichernd viele sonderbare Dinge erzählt hatten, manchmal auch mit kaum verhohlener Unruhe.
    Hanna wusste, was es hieß, zu erröten, wusste, was plötzlich im Körper geschehen konnte, besonders abends, kurz vor dem Einschlafen.
    Aber mehr war es nicht. Wie konnte Elin wissen, was während einer langen Schlittenfahrt zur fernen Küste geschah oder nicht geschah?
    Sie fragte geradeheraus.
    »Er ist bekehrt«, sagte Elin schlicht. »Vorher war er ein entsetzlicher Mann, wie die meisten von diesen Wolfsmännern mit ihren Schlitten. Aber seit er bekehrt ist, verhält er sich wie ein barmherziger Samariter. Er lässt dich mitfahren und wird dafür nicht einmal Bezahlung nehmen. Er wird dir einen seiner Pelze borgen, du wirst nicht frieren.«
    Allerdings konnte Elin nicht sicher sein, ob er kam oder wann. Der übliche Zeitpunkt war irgendwann vor Weihnachten. Aber manchmal war er erst zu Neujahr gekommen. Oder war ganz ausgeblieben.
    »Tot kann er natürlich auch sein«, sagte Elin.
    Wenn ein Schlitten im Schneetreiben verschwand, wusste man nicht, ob es das Letzte war, was man von einem Menschen sah, sei er jung oder alt.
    Hanna würde vom 12. Dezember an reisefertig sein. Jonathan Forsman hatte es immer eilig. Im Gegensatz zu Leuten, die alle Zeit der Welt hatten, war er bedeutend und lebte in großer Eile.
    »Er kommt meist am Nachmittag«, sagte Elin. »Durch den Wald nach Süden, auf dem Schlittenweg, der dem Rand des Moors folgt und hinunter zur Flussfurche und den Tälern führt.«
    Jeden Tag ging Hanna am Nachmittag, wenn die Dunkelheit hereinbrach, zum Schlittenweg und schaute zum Wald hin. Mitunter meinte sie eine ferne Pferdeschelle zu hören. Aber niemand kam. Die Tür des Waldes blieb geschlossen.
    In der Zeit dieses unruhigen Wartens schlief sie schlecht, wachte oft auf, hatte wirre Träume, die sie erschreckten, ohne dass sie eigentlich wusste, warum. Oft waren ihre Träume nur weiß wie der Schnee, leer, lautlos.
    Einen Traum hatte sie jedoch, der wiederkehrte und sie verfolgte: Sie lag mit zwei Geschwistern im Ausziehbett, mit dem jüngsten Sohn, Olaus, und der Schwester, die ihr im Alter am nächsten war, Vera, der Zwölfjährigen. Sie spürte die warmen Körper der Kinder, aber sie wusste, dass es unbekannte Kinder wären, wenn sie die Augen aufschlüge. Und in dem Augenblick, in dem sie sie sah, würden sie sterben.
    Dann erwachte sie und begriff mit grenzenloser Erleichterung, dass es nur ein Traum war. Oft blieb sie dann wach liegen und schaute auf das blaue Mondlicht, das durch die niedrigen mit Eiskristallen überzogenen Fenster fiel. Mit der Hand betastete sie die Holzwand und das Zeitungspapier. Dicht neben ihr war die Kälte, die an dem alten Holz zog und zerrte.
    Die Kälte ist wie ein Tier, dachte sie. Ein Tier, eingesperrt in seinen Verschlag. Ein Tier, das ins Freie will.
    Der Traum bedeutete etwas, es musste etwas mit ihrer Reise zu tun haben. Was erwartete sie? Was würde von ihr verlangt werden? Sie fühlte sich linkisch, wenn sie sich Stadtmenschen vorstellte. Wäre ihr Vater noch am Leben, hätte er ihr davon erzählen und sie vorbereiten können. Er war einmal in Stockholm gewesen und auch in einer anderen großen und bemerkenswerten Stadt, die Arboga hieß. Er hätte ihr sagen können, dass sie keine Angst zu haben brauchte.
    Elin stammte aus dem Funäsdalen und war noch nie woanders gewesen, hatte nur diese Reise nach Norden gemacht, zusammen mit dem Mann, den sie heiraten würde. Nun war sie es, die antworten musste,
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