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Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Titel: Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)
Autoren: Henning Mankell
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Forsman nickte. Er stellte keine weiteren Fragen. Das Feuer brannte.
    In dieser Nacht schlief Jonathan Forsman auf dem Boden neben der Feuerstelle. Er lag auf seinen ausgebreiteten Pelzen und deckte sich nur mit den Rentierfellen zu. Das Pferd hatte im Stall Platz gefunden, zwischen Kuh und Ziegen gedrängt.
    Hanna lag lange wach. Seit ihr Vater gestorben war, hatte kein Mann im Haus geschlafen. Jetzt war da wieder einer, der im Schlaf schnarchte und schnaufte.
    Forsman schlief mit stöhnenden Atemzügen, als würde er eine schwere Bürde tragen.
    Am nächsten Tag fielen einzelne Flocken vom Himmel. Das Quecksilber zeigte zwei Grad unter null. Morgens um kurz nach acht setzte Hanna sich mit ihren beiden Bündeln in den Schlitten. Sie hatte alles angezogen, was sie besaß, und Jonathan Forsman hüllte sie in noch mehr ein, so dass sie sich kaum rühren konnte.
    Die Geschwister weinten, als sie sie zum Abschied umarmte, erst einzeln, dann alle zusammen.
    Aber Elin gab sie nur die Hand. Es war, wie es war. Sie hatte beschlossen, sich nicht umzudrehen, wenn sie im Schlitten saß. Innerlich weinte sie, als Jonathan Forsman die Peitsche schnalzen ließ und das schwarze Pferd mit dem Schlitten losruckelte. Aber sie zeigte es nicht.
    Sie dachte an ihren Vater. Es war, als stünde auch er da, neben Elin, und sähe, wie sie aufbrach.
    Gerade in diesem Moment war er zurückgekehrt. Er wollte dabei sein.
    Es war 1903, das Jahr, in dem wieder eine große Not über das nördliche Schweden hinwegzog.

10
     
    Die Schlittenfahrt von Ljungdalen zur Küste würde fünf Tage dauern. Das hatte Jonathan Forsman zu Elin gesagt, fast als hätte er ein Versprechen gegeben.
    »Länger nicht«, sagte er. »Der Schnee ist geführig, ich habe nicht viele Geschäfte, die uns aufhalten. Wir machen nur halt, um zu essen und zu schlafen. Wir folgen dem Fluss, biegen nach Norden ab und fahren durch den Hochwald direkt nach Sundsvall. Es dauert fünf Tage, nicht mehr.«
    Aber die Schlittenfahrt sollte länger dauern. Schon am zweiten Tag, bevor sie überhaupt den Wald erreicht hatten, der die Grenze zwischen Jämtland und Härjedalen bildete, zog ein Schneesturm von Osten auf, den Jonathan Forsman nicht vorhergesehen hatte. Der Himmel war klar gewesen, der Tag kalt, der Schnee geführig. Aber plötzlich hatten die Wolken sich aufgetürmt. Sogar Antero, Forsmans schwarzes Pferd, begann unruhig zu werden.
    Sie kehrten in einem Gasthof in Överhogdal ein. Hanna bekam einen Schlafplatz in einem Zimmer mit den Mägden der Pension. Aber beim Essen saß sie mit Jonathan Forsman am Tisch und wurde bedient wie er. Das war noch nie in ihrem Leben geschehen.
    »Wir fahren morgen weiter«, sagte er, nachdem er ein Tischgebet gesprochen und darauf geachtet hatte, dass auch sie die Hände faltete.
    Doch in dieser Nacht drehte der Wind nach Norden, und Forsman entschloss sich zum Bleiben. Der starke Wind und der Schneefall zogen nicht weiter. Sie blieben eingeschneit in dem grauen Gasthof. In weniger als vier Stunden fiel ein halber Meter Neuschnee, und der Sturm türmte die Schneewehen an einigen Stellen bis zum First des Hauses.
     
    Erst am Nachmittag des vierzehnten Reisetages, gerade in der kurzen Dämmerung, kamen sie in Sundsvall an. Hanna hatte die Tage gezählt, aber nicht bedacht, dass an diesem Abend Silvester war. Am Tag darauf würde das Jahr 1904 beginnen.
    Für Jonathan Forsman schien der Jahreswechsel bedeutungsvoll zu sein. Er trieb das Pferd an, da er vor Mitternacht in der Stadt sein wollte. Für Hanna war Silvester nie etwas Besonderes gewesen. Meistens hatte sie geschlafen, wenn das neue Jahr kam. Sie konnte sich nicht erinnern, dass der Jahreswechsel für ihren Vater und ihre Mutter ein Grund zum Feiern war.
    Dass sie den Weihnachtsabend und den ersten Weihnachtstag gemeinsam verbracht hatten, bedeutete für Forsman wenig oder gar nichts. Es war der Jahreswechsel, der zählte.
    Die lange Schlittenfahrt durch die Wälder und weiten Felder hatte unter Schweigen stattgefunden. Hin und wieder hatte Jonathan Forsman dem Pferd etwas zugerufen. Aber mit Hanna hatte er nicht gesprochen. Er saß wie eine Wand vor ihr im Schlitten.
    An diesem letzten Reisetag war es jedoch anders. Er drehte den Kopf und rief ihr etwas zu, und sie schrie ihre Antworten laut heraus, damit er hören konnte, was sie sagte.
    Jonathan Forsman sah etwas Heiliges im Jahreswechsel. »Gott hat ihn erschaffen, damit wir die Zeit bedenken, die hinter uns liegt, und die, die
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