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Erich Kastner

Erich Kastner

Titel: Erich Kastner
Autoren: Der 35.Mai oder Konrad reitet in die Sudsee
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blätterte, obwohl ihn das Pferd in die Luft hielt, nach wie vor in dem Buch und zog Sorgenfalten.
    »Ich kann sie nicht finden, Onkel«, sagte er plötzlich.
    »Wen?« fragte Ringelhuth. »Die Minna von Bornholm?«
»Die Südsee«, sagte Konrad.
»Die Südsee?« fragte das Pferd erstaunt. Weil es aber beim Reden das Maul aufmachen mußte, fiel Konrad mit Getöse aufs Parkett.
»Ein Glück, daß Mühlbergs Kronleuchter schon runtergefallen ist«, meinte der Onkel und rieb sich befriedigt die Hände. »Aber was machen wir bloß mit dieser Südsee?« Er wandte sich zu dem Pferd: »Mein Neffe muß nämlich bis morgen einen Aufsatz über die Südsee schreiben.«
»Weil ich gut rechnen kann«, erläuterte Konrad mißvergnügt.
Das Pferd überlegte einen Augenblick. Dann fragte es den Onkel, ob er am Nachmittag Zeit habe.
»Klar«, sagte Ringelhuth, »donnerstags habe ich in meiner Apotheke Nachtdienst.«

    »Ausgezeichnet«, rief Negro Kaballo, »da gehen wir rasch mal hin!«
»In die Apotheke?« fragten Konrad und der Onkel wie aus einem Munde.
»Ach wo«, sagte das Pferd, »in die Südsee natürlich.« Und dann fragte es: »Darf ich mal telefonieren?«
Onkel Ringelhuth nickte, und das Pferd trabte ans Telefon, nahm den Hörer von der Gabel, wählte eine Nummer und sagte: »Hallo! Ist dort das Reisebüro für Zirkuspferde? Ich möchte das Riesenroß persönlich sprechen. Selbst am Apparat? Wie geht’s denn? Die Mähne wird grau? Ja, wir sind nicht mehr die Jüngsten. Also hören Sie, wie komm ich auf dem kürzesten Weg nach der Südsee? Ich will am Abend schon wieder hier sein. Schwierig? Riesenroß, machen Sie keine Geschichten! Wo ich bin? Johann-Mayer-Straße 13. Bei einem guten Bekannten, einem gewissen Ringelhuth. Was? Na, das ist ja großartig! Heißen Dank, mein Lieber!«
Das Pferd wieherte zum Abschied dreimal ins Telefon, legte den Hörer auf, drehte sich um und fragte: »Herr Ringelhuth, befindet sich auf Ihrem Korridor ein großer geschnitzter Schrank? Es soll ein Schrank aus dem 15. Jahrhundert sein.«
»Und wenn dem so wäre«, sagte Ringelhuth, »was, um alles in der Welt, hat so ein alter Schrank mit der Südsee und Ihrem Riesenroß zu tun?«
»Wir sollen in diesen Schrank hineingehen und dann immer gradeaus. In knapp zwei Stunden wären wir an der Südsee«, erklärte das Pferd.
»Machen Sie keine faulen Witze!« bat Onkel Ringelhuth.
Konrad aber raste wie angestochen in den Korridor hinaus, öffnete die knarrenden Türen des alten großen Schrankes, der dort stand, kletterte hinein und kam nicht wieder zum Vorschein.
»Konrad!« rief der Onkel. »Konrad, du Lausejunge!« Aber der Neffe gab keinen Laut von sich. »Ich werde verrückt«, versicherte der Onkel. »Warum antwortet der Bengel nicht?«
»Er ist sicher schon unterwegs«, sagte das Pferd.
Da kannte Ringelhuth kein Halten mehr. Er rannte hinaus zum Schrank, blickte hinein und rief: »Wahrhaftig, der Schrank hat keine Rückwand!«
Das Pferd, das ihm gefolgt war, meinte vorwurfsvoll: »Wie konnten Sie daran zweifeln? Klettern Sie nur auch hinein!«
»Bitte nach Ihnen«, sagte Onkel Ringelhuth, »ich bin hier zu Hause.«
Das Pferd setzte also die Vorderhufe in den Schrank. Ringelhuth schob aus Leibeskräften, bis der Gaul im Schrank verschwunden war. Dann kletterte der Onkel ächzend hinterher und sagte verzweifelt: »Das kann ja gut werden.«
    EINTRITT FREI! KINDER DIE HÄLFTE!
    Onkel Ringelhuth stieß in dem Schrank gegen einen harten Gegenstand. Das war ein alter Spazierstock, und den nahm er mit. Die Südsee ist weit, dachte er. Und dann raste er wie ein studierter Langstreckenläufer in das Dunkel hinein und immer geradeaus. Zunächst begleiteten hohe bröcklige Mauern den gespenstischen Weg. Aber plötzlich hörten die Mauern auf, und der Onkel befand sich in einem Wald.

    Doch in diesem Wald standen nicht etwa Bäume, sondern Blumen! Gewaltige Glockenblumen zum Beispiel, hoch wie Tannen. Und wenn der Wind wehte, schlugen die Staubgefäße gegen die Blütenwände, und das klang, als würde geläutet. Und neben den Glockenblumen standen Schwertlilien. Und Kamillen. Und Akelei. Und Rosen in herrlichen Farben. Und alle Blumen in diesem Wald waren groß wie jahrhundertealte Bäume. Und die Sonne ließ die mächtigen Blüten leuchten. Und die Glockenblumen läuteten verzaubert, denn es wehte eine leichte Brise. Und Onkel Ringelhuth rannte zwischen den vergrößerten Blumen hin und her und rief dauernd: »Konrad, wo bist du?«
    Fast zehn Minuten
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